Horizontal vs. vertikal verbundene Familien
Unsere Herkunftsfamilie, also die Familie in der wir groß geworden sind, ist wohl das in unserem Leben, das uns alle am nachhaltigsten prägt. Man kann das begrüßen oder verteufeln, ihre Einflüsse sind ein Leben lang spürbar. Um so wichtiger ist es, sich die Organisation der eigenen Familie und die eigene Einbindung in sie genau anzuschauen. Ich denke, es gibt grundsätzlich zwei verschiedenen familiäre Organisationsformen. Ich behaupte nicht, dass diese beiden Formen irgendwo in ihrer Reinform existieren, sie sind idealtypisch. Trotzdem ist es nützlich, sich die beiden Ideale anzuschauen.
Die vertikal verbundene Familie
Als vertikal bezeichne ich hier die Richtung der Ahnenreihe, so wie sie traditionell im Stammbaum vertikal dargestellt wird. Die vertikale Familie wird gerne auch die „traditionelle“ oder „Großfamilie“ genannt. Die Familienmitglieder sehen sich in der Reihe ihrer Großeltern, Eltern und Kinder. Als das Wichtigste wird nicht das Individuum, sondern die Familie und deren Zusammenhalt gesehen. Die Kinder verlassen die Familie nicht, um auf eigenen Füßen zu stehen, sondern sie führen die Familientradition fort. Angeheiratete Familienmitglieder – in patriarchalischen Kulturen die Frauen – werden in die Familie aufgenommen, sofern sie die eigene Herkunftsfamilie weniger hoch schätzen als die, in die sie hineingeheiratetet haben. Sie geben ein Stück weit die eigene Ahnenreihe auf. Sie fühlen sich nun an die Matriarchin der neuen Familie gebunden, nehmen aber als „Neuzugänge“ einen relativ geringen Rang ein. So sind auch eingeheiratete Familienmitglieder vertikal in die Familie eingebunden.
Die vertikale Organisation hat einen wesentlichen Vorteil: sie stiftet die Identität der Familienmitglieder. Sie haben ihre angeborene Bedeutung, weil sie an einer bestimmten Stelle im Stammbaum stehen. Sie definieren sich weder durch Erfolg, Besitz oder Aussehen, sondern wesentlich durch ihre Einbettung in die Familie. Die Familie ist hierarchisch und traditionell organisiert. Das klingt zuerst einmal gut, hat aber auch einige Nachteile.
Der erste wurde schon angesprochen: die Individualität der Familienmitglieder wird klein geschrieben. Sie haben den Familientraditionen zu folgen, eigene Wünsche haben wenig Bedeutung. Denn die Mitglieder der Familie müssen deren „Ehre“ hoch halten, wie diese auch immer definiert sei. Die Familienmitglieder, die sich in der Hierarchie „hochgedient“ haben, achten streng darauf, dass diese Hierarchie nicht in Frage gestellt wird.
Die ganze Familie beobachtet also das Verhalten eines jeden Mitglieds. Und Familienmitglieder, die sich nicht konform verhalten, werden zu ausgeschlossenen „Schwarzen Schafen“. Dadurch, dass ihr Status von ihrer Stellung in der Familie abhängt, haben sie diesen bei einem Ausschluss verloren. Sie sind einsame, als wertlos empfundene Menschen.
Weiterhin definiert sich der Zusammenhalt der Familie durch eine starke Ablehnung gegen alles Fremde. Toleranz gegenüber anderen Lebensformen oder auch nur anderen Familien kann es nicht geben, denn die gefährden den Fortbestand der Familie, so wie deren Mitglieder sie verstehen. Da aber keine Familie als eine einsame Insel existieren kann, werden inter-familiäre Bündnisse durch Heiraten beschlossen. Diese Praxis macht es jungen Leuten aber unmöglich, einen Partner zu heiraten, den sie sich selbst ausgesucht haben.
Die horizontal verbundene Familie
Die Bezeichnung „horizontal“ folgt der horizontalen Richtung im Stammbaum. Diese Familie versteht sich vor allem aus einem Ehepaar bestehend, temporär kommen die eigenen Kinder hinzu, solange sie nicht auf eigenen Füßen stehen. Erst in zweiter Linie – wenn überhaupt – sieht man sich in der eigenen Ahnenreihe stehend. Diese hat aber kaum Einfluss auf die eigene Lebensphilosophie und -führung. Diese wird vor allem aus der eigenen Lebensgeschichte abgeleitet und vom Ehe- oder Lebenspartner mitbestimmt. Die horizontale Familie wird auch gerne die „moderne“ oder „Kleinfamilie“ genannt.
Sobald ein Nachkomme einer solchen Familie auf eigenen Füßen stehen kann, wird von ihm verlangt, dass er die Familie verlässt und den eigenen Erfolg anstrebt. Er wird dann in der Regel wieder eine eigene horizontale Familie gründen. In dieser Organisationsform wird also Individualität und das Streben nach dem eigen Glück groß geschrieben. Überkommene Familientraditionen haben nur geringe Bedeutung, sie beeinflussen die eigene Lebensform anscheinend nicht. Das Zusammenleben ist partnerschaftlich, nicht hierarchisch. Patriarchale Strukturen sind weniger auffällig und haben geringere Bedeutung.
Auf der anderen Seite kann das Mitglied einer solchen Familie aber auch leicht vereinzeln. Er verliert seine Eltern-Funktion, sobald die Kinder das Haus verlassen haben. Und endet die Ehe, sei es aufgrund des Todes des Ehepartners oder aufgrund einer Scheidung, so ist die Familie nicht mehr existent. Plötzlich ist das Familienmitglied ein Individuum ohne Einbindung in eine familiäre Situation.
Die Herkunftsfamilie beider Partner ist meist weit weg, da man sich aufgrund des Strebens nach individuellem Erfolg örtlich von ihnen entfernt hat. So ist der Ehepartner der einzige, der Wärme und Nähe geben kann, er ist der einzige Ansprechpartner. Somit kommt auf ihn eine hohe Belastung zu, die ihn überfordern muss. Denn dieser Aufgabe kann kaum jemand gerecht werden, so kommt es zu Spannungen in der Ehe, die bei vertikalen Familien aufgrund der Nähe zu anderen Familienmitgliedern von anderen aufgefangen werden.
Je älter es wird und je mehr Lebenskrisen es erlebt hat, umso mehr merkt ein Mitglied einer horizontalen Familie, dass es auch vertikal eingebunden ist. Es hat von seiner Herkunftsfamilie Glaubenssätze, Scripte und Lasten übernommen, die, auch wenn man sie ablehnt, das eigene Leben prägen. Oft sind diese unbewusst und müssen mühsam aufgedeckt werden. In einer vertikalen Familie ist das leichter, Familiengeheimnisse lassen sich kaum gegenüber den eigenen Mitgliedern auf Dauer bewahren.
Übergangsfamilien
Verlässt ein Mitglied einer vertikalen Familie diese, „um in der Fremde sein Glück zu machen“, und gründet dort eine eigene Familie, so wird diese zwangsläufig horizontal sein. Typische Beispiele dafür findet man bei Einwanderern. Hier kommt es zu Schwierigkeiten, weil versucht wird, die gewohnte vertikale Lebensweise mit ihren Einschränkungen auf eine horizontale Familie zu übertragen, ohne die Vorteile nutzen zu können. Denn die Familienmitglieder sind weit weg. Deshalb wird versucht, möglichst bald eine vertikale Organisation aufzubauen, indem man Mitglieder der eigenen Herkunftsfamilie nachholt.
Aber es gibt auch den anderen Fall: Jemand, der aus einer horizontalen Familientradition kommt und selbst eine horizontale Familie gegründet hat, kommt mit der Vereinsamung nicht (mehr) klar. Er wird also versuchen, eine vertikale Organisation aufzubauen. Die eigene Herkunftsfamilie steht aber im Gegensatz zum ersten Typ der Übergangsfamilie dafür nicht zur Verfügung. So wird er sich in andere Organisationen einbinden, zum Beispiel in Vereine. Möglicherweise wird die Pseudo-Nähe „völkischer“ Gruppierungen suchen. Diese können aber nie einen Ersatz für eine echte Herkunfts-Familie sein. Enttäuschungen sind also vorprogrammiert.
Fazit
Die rein vertikale Familie ist heute nicht mehr zeitgemäß. Sie passt nicht mehr in die moderne Wirtschaft, denn die verlangt örtlich hochgradig flexible Mitarbeiter. Die rein horizontale führt aber sehr schnell zur Vereinsamung und zu einer hohen Belastung der Ehepartner. So ist heute weder die eine noch die andere passend, es muss eine Form gefunden werden, wie trotz weiter Entfernungen in modernen Familien eine gewisse vertikale Einbindung gewahrt werden kann. Wie diese Lösung aussieht – keine Ahnung, das muss jeder für sich selbst herausfinden. Aber vielleicht können hier soziale Netzwerke helfen.