Zwanghaft glücklich
Die Pflicht, glücklich zu sein
„Denk mal ein bisschen positiv!“ und „Jeder ist für sein Glück selbst verantwortlich!“ Solche Sätze machen nicht glücklich, sondern setzen den anderen nur unter Druck. Denn jeder hört und liest heute überall, dass man glücklich zu sein hat – immer. Und wenn Du das nicht bist, ist das schon fast eine Unverschämtheit, denn es zieht andere mit hinunter. Wenn man also sozial kompatibel sein will, muss man glücklich sein: „Wie geht es Ihnen?“ – „Ausgezeichnet, danke!“ (siehe auch: „Das Glück liegt in der Zukunft?“)
Und dieses Glück muss dauerhaft sein, darf nicht nachlassen. Schlechte Laune und Trauer darf nicht sein. Der aktuelle amerikanische „Leitfaden psychischer Störungen DMS-5“ bezeichnet eine Trauer über den Tod einer geliebten Person, die über 14 Tage anhält, als behandlungswürdige Störung. Denn eine solche Trauer, ein so lang andauerndes Unglücklich sein, ist eine Zumutung geht anderen Leuten an die Substanz. Der Rest der psychiatrischen Welt, der sich nach „Internationalen Klassifizierung psychischer Störungen ICD-10/V“ richtet, sieht das zwar noch anders, aber der Trend ist unverkennbar. Er passt zur geforderten Selbstoptimierung der Menschen. Der Volksmund spricht dagegen von einem Trauerjahr, und ich finde, das sollten wir uns gönnen.
Der Weg zum Glück
Es gibt buchstäblich hunderte von Büchern, die den Weg zum Glück weisen. Die meisten versprechen: „Du musst nur wollen, dann wirst Du glücklich.“ Wer also nicht glücklich ist, ist selber schuld. So einfach scheint das dann doch nicht zu sein, sonst gäbe es nicht so viele unterschiedliche Verfahren, mit denen Du Dein Glück garantiert erreichen kannst. Selbst Melancholie, die zu tiefen Gedanken befähigt, ist nicht erwünscht – vielleicht gerade wegen der tiefen Gedanken?
Im Berufsleben sind nur Mitarbeiter gefragt, die ständig und im Brustton der Überzeugung sagen können: „Mir ging es nie besser!“ Denn nur die sind angeblich in der Lage, sich und die Produkte der Firma erfolgreich verkaufen zu können. Ich habe allerdings andere Beobachtungen gemacht. Zum Beispiel gab es in Köln vor langer Zeit einen Laden, „Eisen-Britz“, bei dem man alles, vom Schlagbohrer über exotische Schrauben bis zu „dem Eisending, was da abknickt und hier eine Bohrung hat“ alles bekommen konnte. Sie hatten riesige Regale, von Wand zu Wand und bis zur Decke, in denen die Waren verstaut waren. Ich erinnere mich an einen der Verkäufer, ein richtiger Miesepeter. Trotzdem wollten alle von ihm bedient werden. Denn er hatte alle Artikel im Kopf und brauchte nie zu sucghen. Er konnte selbst mit vagen Beschreibungen etwas anfangen und den richtigen Artikel aus dem hintersten Eck hervorziehen. Dieser kleine ältere Mann im ewig gleichen grauen Kittel war gefragt bei den Kunden – trotz andauernder Miesepetrigkeit. Gute Laune scheint also nicht alles zu sein.
Das Recht, unglücklich zu sein
Obwohl von den Menschen erwartet wird, ständig glücklich zu sein, sind sie es doch nicht immer. Die Ratschläge, wie man stetes Glück erreichen kann, scheinen also nichts zu taugen. Die Anzahl der Menschen, die so unglücklich sind, dass sie krank werden, nimmt zu. Denn aus dem Glücksversprechen ist ein Glücksgebot geworden. Es wird Dauergrinsen verlangt, auch wenn es die Tiefe unserer Seele nicht erreicht.
Dabei kann es Glück in unserem Leben nur episodisch geben, es ist nicht herstellbar. Glück braucht Leid und Trauer als Antipoden, sonst verkommt es zu lauem Behagen. Uns muss erlaubt sein, Leiden an der Welt zu empfinden. Es darf Zeiten geben, in denen wir weniger lachen. Denn eins ist klar: oberflächliches Glück macht uns nicht glücklich, und Leid, das wir wegdrücken, kommt zu unpassenden Gelegenheiten wieder zum Vorschein. Wir haben also das Recht, ja sogar die Pflicht, unser Unglück zu empfinden und auszuleben. Nur so erhalten wir unsere psychische Gesundheit. Extrem positive Emotionen bei Abwesenheit aller negativen ist ein Zeichen einer psychischen Störung – der Manie.
Wer Glücklichsein als Pflicht empfindet, neigt dazu, negative Emotionen zu verdrängen. Wer diese allerdings akzeptiert, bewertet seine Lage paradoxerweise weniger negativ und hat kein schlechtes Gewissen, wenn er nicht glücklich ist. Wir dürfen unsere Gefühle, und zwar gerade unsere negativen, anschauen und durchleben. Sonst heften sie sich wie Pech an unsere Fersen und machen sich immer wieder negativ bemerkbar, jedes Mal, wenn wir sie verdrängen, ein Stück stärker. So kann die Pflicht zum Glücklichsein leicht in eine Depression führen.
Fazit
Wir schulden es also unserer Gesundheit, unglückliche Episoden bewusst zu durchleben, ohne sie zwanghaft und hektisch überdecken zu wollen. Sie weisen uns auf bestehende Mängel hin, die bearbeitet werden wollen. Diese Mängel werden so nicht zu tiefen schwarzen Löchern, in die wir hineinfallen, ohne wieder herauszufinden. Sie bleiben dann das, was sie sind: Episoden, vorübergehende Erscheinungen, die durchlebt werden wollen, uns aber nicht brechen können. Wir verlieren dann keine Seelenanteile, unser inneres Selbst bleibt intakt.