Sucht ist eine Krankheit
In einer größeren Familie ist es wahrscheinlich, dass es jemanden gibt, der ein Suchtproblem hat. Hierzulande ist das meist ein Alkohol- oder Tablettenproblem, seltener ein Problem mit anderen Stoffen, wie z.B. Crystal Meth. Da ich nur Erfahrung mit Alkoholsucht habe, werde ich mich hier auf dieses Problem beschränken, wohl wissend, dass es stoffgebundene und nicht stoffgebundene Süchte gibt, und das vieles zur Sucht werden kann, was von anderen Benutzern nicht im Sinne einer Sucht missbraucht wird.
Was ist eine Sucht?
Hier lasse ich gerne Roland Voigtel, einen Psychotherapeuten, der sich viel mit Sucht beschäftigt hat, zu Wort kommen:
„Sucht besteht, wenn ein Mensch regelmäßig sein Körpergefühl selbstmanipulativ verändert, um als unerträglich empfundene emotionale Spannungen nicht wahrnehmen zu müssen.
Die unerträglichen Spannungen sind im Zusammenhang innerer und äußerer Notlagen entstanden und können nicht willkürlich beherrscht werden.
Die Art der Selbstmanipulation ist lebensgeschichtlich erworben.
Der Mensch benutzt dazu Mittel mit geeigneter Eigenwirkung.“
Wie bemerke ich ein Suchtproblem?
Zuerst einmal gar nicht. Süchtige sind sehr gut darin, ihre Probleme zu verstecken, Sie werden in der Regel erst etwas merken, wenn die Sucht schon weit fortgeschritten ist. Jahrelang merkt niemand etwas, denn ein Alkoholiker ist selten jemand, der betrunken im Straßengraben liegt- das ist nur das Endstadium. Im Gegenteil, meist funktionieren Süchtige noch längere Zeit, unterstützt von ihren engsten Angehörigen, die zu Co-Alkoholikern werden. Aber mit der Zeit häufen sich Ausfälle, es kommt zu Fehlverhalten wie häuslicher Gewalt, Pflichten werden vernachlässigt. Das muss noch nichts mit einer Sucht zu tun haben, Eheprobleme z. B. bewirken ähnliches. Aber in der Familie weiß nach einiger Zeit jeder, was los ist, auch wenn es noch lange „übersehen“ wird. Auch wenn Sie als Nichtmediziner keine Diagnose stellen können, um Ihren Verdacht zu erhärten finden Sie hier entsprechende Beschreibungen.
Was tun?
Machen Sie sich klar: Sucht ist kein böser Wille und keine Charakterschwäche. Sucht ist eine schwere Krankheit. Sie ist so gefährlich wie Krebs, denn früher oder später stirbt der Süchtige an ihr, auch an dem angeblich harmlosen Alkohol. Und Sie als Familienangehöriger tragen keine Schuld an der Sucht, der Süchtige trägt ganz allein die Verantwortung.
Der Süchtige hat – aus welchem Grund auch immer – eine Zeitlang zu viel getrunken. Ist er nun, z. B. genetisch bedingt, oder auch wegen Traumata, suchtanfällig, wird sein erhöhter Alkoholkonsum zur Sucht, ohne dass er etwas dagegen tun kann. Ein nicht Süchtiger kann den Alkoholkonsum einschränken oder beenden, bei einer Sucht ist der Verzicht ein ganz anderes Kaliber. Der Süchtige kann nicht einfach aufhören, so gerne er es vielleicht auch möchte. Deshalb sind Versprechen von Süchtigen, weniger zu trinken, nichts wert. Nicht, dass sie die Versprechen nicht ernst nehmen ist das Problem, sondern der Entzug. Der ist im wahrsten Sinne des Wortes mörderisch. Ohne ärztliche Hilfe sterben dabei 1/3 der Patienten im Delir, und auch die Entzugsklinik kann nicht alle retten.
Kontaktieren Sie eine Beratungsstelle!
Sie als Angehöriger können alleine nicht viel machen. Damit beim Süchtigen ein echter Wunsch nach Änderung des Zustands eintritt, muss er meist ganz unten gelandet sein. Sie unterstützen also einen Süchtigen nicht, indem Sie ihm helfen, seine Sucht zu verschleiern. Das macht die Sache nur schlimmer, wie bei einer verschleppten Grippe, die zur Lungenentzündung wird. Und Sie werden zum Co-Abhängigen, denn auch Ihr Leben dreht sich mit der Zeit nur noch um die Sucht und ihre Verschleierung. Der Abhängige zieht Sie unbewusst mit in den Abwärtsstrudel, indem er an Ihre Hilfsbereitschaft appelliert.
Es gibt eine große Zahl von Beratungsstellen für Angehörige Süchtiger. Der erste Rat, den alle Ihnen geben werden, wird lauten: Stützen Sie die Sucht nicht! Die beste Unterstützung für Ihren Angehörigen ist, sein Problem offen anzusprechen. Tun Sie das ohne Schuldzuweisung, denn der Süchtige ist krank, nicht charakterschwach.
Obwohl in Deutschland 2 Millionen Menschen alkoholsüchtig sind und weitere 2 Millionen alkoholgefährdet, ist das Thema immer noch ein Tabu und hochgradig schambehaftet, auch für die Familienangehörigen. Reden Sie trotzdem offen darüber – es gibt keinen Grund, dass Sie sich schämen. Aber bestehen Sie darauf, dass er sich professionelle Hilfe holt, um zu entgiften und zu entziehen. Drohen Sie ihm mit Trennung – und machen Sie die Drohung auch wahr. Denn der Süchtige kann sich nicht ändern, ohne ernsthafte Konsequenzen zu spüren.
Nach dem Entzug
Machen Sie sich klar: Wenn der Süchtige aus der Reha zurückkommt, ist er ein neuer Mensch. Handeln Sie ihren gemeinsamen Umgang also neu aus, so wie Sie ihn ausgehandelt haben, als Sie ihn kennengelernt haben. Wenn er in die alte Beziehung zurückfällt, wird er wieder die Verantwortung für sein Leben an Sie zurückgeben, und das ist der sichere Weg in den Rückfall. Aber Sie müssen sich beeilen, sie müssen Ihre Beziehung sofort nach seiner Rückkehr neu aufbauen, nur dann sind Sie beide bereit dazu. Nutzen Sie seine Zeit in der Reha, um sich selbst darüber klar zu werden, wie Sie sich Ihre zukünftige Beziehung vorstellen.
Der Kernpunkt ist, dass Sie ihm die Verantwortung für sein Leben voll und ganz geben. Vertrauen Sie ihm, auch wenn es schwer fällt. Sie können ihn nun wieder als Erwachsenen behandeln.
Dennoch ist die Gefahr des Rückfalls groß. Zollen Sie ihm Anerkennung, solange er standhaft bleibt. Aber sprechen Sie jede Verfehlung deutlich an.
Führen Sie ihn nicht in Versuchung: Möglicherweise müssen Sie selbst jetzt zumindest eine Zeitlang auf Alkohol verzichten. Und für ihn ist jeder, auch der geringste Alkohol- oder Alkohol-Ersatzkonsum tabu: kein „alkoholfreies“ Bier(„ist ja nichts drin!“), kein Kochen mit Alkohol oder Alkohol-Aromen („Das verkocht doch!“), keine alkoholgefüllten Pralinen („Da ist ja nur ein bisschen drin!“). All das, auch der symbolische Alkoholgenuss, führt bei einem trockenen Alkoholiker möglicherweise direkt zum Rückfall. Bestehen Sie darauf, dass die Familie Bescheid weiß. Machen sie den anderen klar, dass Alkohol für einem „Trockenen“ ein langsam, aber sicher wirkendes Gift ist.
Und bei Alkoholgefährdung?
Trinkt ein Angehöriger zu viel Alkohol, ist aber noch kein Alkoholiker, wird er seinen Konsum noch nicht tarnen. Sie haben also eine Chance, das zu bemerken und gegenzusteuern. Bieten Sie ihm Hilfe an, machen Sie ihm aber auch klar, dass er auf einem gefährlichen Weg ist.
Auf jeden Fall ist es weit besser und einfacher, etwas gegen Alkoholgefährdung zu tun. Ist diese zur Alkoholsucht geworden, wird die Behandlung schwierig und ist ohne entsprechende Spezialisten kaum möglich. Vor allem Teenager und frühe Twens sind gefährdet: Ihr noch nicht ganz ausgereiftes Gehirn reagiert auf erhöhten Alkoholkonsum leicht mit Schäden und der Entwicklung einer Sucht. Etwa 10 % der wegen Koma-Saufen aufgefallenen Jugendlichen sind zehn Jahre später süchtig.
Fazit
Ein Alkoholsüchtiger ist schwer zu erkennen und noch schwerer zu therapieren. Ich berate Sie gerne, therapiere aber keine Sucht – das will, kann und darf ich nicht. Nicht dass der Süchtige nicht von seiner Droge wegkommen will – er kann es nicht, jedenfalls nicht ohne massive und professionelle Hilfe. Und er braucht besonders nach dem Entzug Unterstützung durch entsprechende Einrichtungen. Kommt er aus der Reha zurück, braucht er Ihr Vertrauen.
Selbst jahrelang trockene Alkoholiker sind immer rückfallgefährdet, auch wenn das Risiko im Laufe der Jahre abnimmt darf man es nicht unterschätzen. Trotzdem lohnt es sich, ihnen ein Vertrauensvorsprung zu geben. Denn bei einem „Trockenen“ wissen Sie, dass er den Absprung geschafft hat, er ist daran gewachsen.
Und noch etwas: schauen Sie sich auch Ihren eigenen Alkoholkonsum an. Man rutscht schneller in die Sucht, als man denkt und erkennt sie bei sich selbst als letzter. Wer sagt: „Ich kann jederzeit aufhören!“, ist schon hochgradig gefährdet.