Was sind wir unseren Eltern schuldig?
Meine Klientin Katrin G. war fertig mit den Nerven. Sie hat einen Mann, der viel arbeitet, lange im Büro bleibt und oft auch am Wochenende nicht da ist. Wenn er heim kommt, ist er fertig und will eigentlich nur noch seine Ruhe. So kann er ihr im Haus und mit den Kindern kaum helfen. Andererseits bringt er gutes Geld nach Hause, von dem sie sich manches leisten können.
Katrin hat zwei Söhne, 12 und 15 Jahre alt, beide auf dem Gymnasium. Eigentlich hat sie die Kinder ja gemeinsam mit ihrem Mann, aber oft fühlt sie sich als alleinerziehend. Und die Jungs werden schwierig, unverschämte Antworten, erproben ihrer Grenzen – Pubertät eben. Sie bräuchten jetzt ihren Vater, aber der hat ja nie Zeit, und so ist das Vater-Söhne-Verhältnis nicht das beste.
Eigentlich wollte Katrin langsam die Rückkehr in ihren Beruf angehen, sie hat nach einer Halbtagsstelle gesucht. Aber wieder ist etwas dazwischen gekommen – ihre Mutter ist vor ein paar Wochen gefallen, Oberschenkelhalsbruch. Inzwischen ist sie zwar wieder zu Hause, aber sie kann sich kaum helfen und Katrin fühlt sich verpflichtet, den Haushalt für sie zu führen. Die Mutter habe ja schließlich für sie gesorgt, als sie klein war, sagt sie. Sie hat ein schlechtes Gewissen, weil sie zu wenig für die alte Frau tut. Sie sagt: „Meine Mutter hat mich schließlich auf die Welt gebracht, da bin ich ihr das jetzt wohl schuldig!“
Wirklich? Ich meine, dass ich nur dann jemand etwas schuldig bin, wenn er etwas getan hat, um das ich ihn gebeten habe. Aber niemand von uns hat seine Eltern gebeten, ihn auf die Welt zu bringen. Das war ganz alleine deren Entschluss und deren Privatvergnügen. Wir sind ihnen also nichts schuldig. Das heißt nicht, dass wir ihnen keinen Respekt entgegen bringen sollten, wenn sie uns im Rahmen ihrer Möglichkeiten gut großgezogen haben. Das ist ein Respekt, dem wir jedem zollen sollten, der Gutes geleistet hat. Also, ehren ja, aber zu fordern, dass wir den Unterhalt der Eltern leisten, halte ich für nicht zulässig.
Denn wir haben eine ganz andere transgenerationale Verpflichtung: Wir müssen, so gut wir können, für unsere eigenen Kinder sorgen. Diesen haben wir das Leben weitergegeben, das wir von unseren Eltern geschenkt bekommen haben. Und mit der Zeugung haben wir für die nächste Generation die Verantwortung übernommen. So tragen wir sozusagen unsere Schulden ab. Der Gesetzgeber sieht das ähnlich: er nimmt uns erst dann in die Pflicht, für unsere Eltern zu sorgen, wenn wir selbst und unsere Kinder versorgt sind. Dass wir meistens trotzdem mehr für unsere Eltern tun, steht auf einem anderen Blatt – das ist freiwillig und keine Verpflichtung.
So habe ich das auch Katrin erklärt. Natürlich wollten wir beide nicht, dass ihre Mutter nun, wo sie alt und nicht mehr leistungsfähig ist, einsam in ihrer Wohnung sitzt. Die würde verkommen, weil sie sich nicht mehr helfen kann. Aber auf der anderen Seite hat Katrin Verpflichtungen gegenüber ihrer eigenen Familie, vor allem gegenüber ihren Söhnen, die schwerer wiegen. So hat sie schließlich eine Lösung gefunden: eine Haushaltshilfe kommt ein paar Mal die Woche zu ihrer Mutter, putzt, wäscht und kauft ein. Katrin kommt ein- oder zwei Mal die Woche und kann sich dann ganz ihrer Mutter widmen, weil sie nichts mehr in deren Haushalt tun muss. Sie hat überhaupt kein schlechtes Gewissen mehr, nachdem ihr das mit der transgenerationalen Aufgabe klar geworden ist.
Nachdem diese Baustelle geräumt war, hat Katrin endlich ein ernstes Wort mit ihrem Mann gesprochen und ihn an seine Pflichten als Vater erinnert. Dabei kam heraus, dass er sich vor dieser Pflicht gedrückt hatte, weil er keine Vorstellung von einem Vater-Sohn-Verhältnis hat – sein Vater war schließlich auch nie da; Aber er hat es tatsächlich geschafft, zumindest die Wochenenden freizuschaufeln und mit seinen Söhnen etwas zu unternehmen. Nichts Tolles – manchmal reicht ein Gespräch oder dass er einfach als Ansprechpartner da ist. Dass sie jetzt miteinander reden, hat auch den ganzen Ton in der Familie geändert. Ihr Mann tut sich in der ungewohnten Vaterrolle zwar manchmal noch schwer. „Aber das wird schon!“, meint Katrin.
Weitere Gedanken zur transgenerationalen Verpflichtung
Wir müssen nicht nur das Gute, das wir in unserer Kindheit und Jugend erfahren haben, an unsere Kinder weitergeben. Unsere Pflicht ist auch, dass wir das Schlechte nicht an sie weitergeben. Haben wir in unserer Kindheit Gewalt erfahren, so ist das eine Sache, die wir zwischen uns und unseren Eltern ausmachen müssen. Unsere Kinder haben damit nichts zu tun. Sich an denen sozusagen für erfahrenes Unrecht zu rächen, würde das Unrecht verdoppeln. Ich weiß, dass gerade in ihrer Kindheit geschlagene Eltern behaupten: „Ein Klaps hat noch niemandem geschadet!“, und so selbst zu schlagenden Eltern werden. Es ist aber unsere verdammte Pflicht gegenüber unseren Kindern, sie gewaltfrei aufzuziehen, sonst wird die Gewalt von Generation zu Generation weitergegeben.
Gewaltfrei ist ein weiter Begriff. Er bedeutet nicht nur ohne Schläge, er bedeutet auch ohne Beschämung. Beide Mittel sind als Erziehungsmaßnahme ungeeignet und zeigen nur die Hilflosigkeit der Eltern. Schläge und Beschämung verursachen bei Kindern Traumata. Da aber beides immer noch so normal ist, will keiner zugeben, wie sehr ihm diese „Erziehung“ geschadet hat. Gerade Männer haben Schwierigkeiten, sich an die Gefühle währen der Strafmaßnahmen zu erinnern. Denn ein Junge weint nicht: er verdrängt den Schmerz – und wird deshalb noch heftiger geschlagen. Dieses Unrecht an unsere Kinder weiterzugeben führt zur Verarmung der kindlichen Seele. Wir schlagen unsere Kinder so zu Krüppeln – seelisch, und wenn es ganz schlimm kommt, auch körperlich.
Natürlich macht jeder bei der Erziehung Fehler. Aber das ist nicht schlimm. Kinder sind ausgezeichnete Beobachter. Sie können die Stimmungen und Absichten ihrer Eltern sehr gut interpretieren. Wenn sie merken, dass ihre Eltern sie lieben und das Beste für sie wollen, wird ein kleiner Erziehungsfehler gut verkraftet.