„Du sollst Vater und Mutter ehren …
… wenn sie Dich hauen, sollst Du Dich wehren, wenn sie um die Ecke gucken, sollst Du ihnen ins Gesichte spucken!“ Das ist ein Kinderreim aus den 50’ern, als alles noch besser war und die Kinder noch Achtung vor den Eltern hatten. Heute würde wohl kaum noch ein Kind auf die Idee kommen, so etwas zu reimen.
Die 1950’er und 60‘er
Das mit der Achtung vor den Eltern war wohl damals nicht so weit her. Die Kinder haben gespürt, dass die Eltern in vielen Fällen keine Achtung vor ihnen hatten, sondern sie zur Erfüllung ihrer eigenen Vorstellungen benutzten und das mit Prügel durchzusetzen versuchten. Ja ich weiß, auch in den 50’ern gab es gute Eltern, aber die meisten waren durch den Krieg so traumatisiert, dass sie ihre Kinder nur schwer angemessen erziehen konnten.
Gerade in den 50’ern und 60’ern waren Prügel das angesagte und allgemein akzeptierte Erziehungsinstrument. Die Kinder hatten sich nach den Vorstellungen der Eltern zu richten, es wurde keine Rücksicht auf ihre Bedürfnisse, ihre Fähigkeiten und ihre Persönlichkeit genommen. Da dieses Verhalten allgemein akzeptiert war wurden die Leiden der Kinder nicht wahrgenommen. Die gängige Religionen, die angeblich Liebe predigten, sagten und handelte ja auch nichts anderes. Die Kinder hingegen taten alles, um den Eltern zu gefallen – das tun sie immer, auch wenn es manchmal nicht gelingt. Und so konnten und durften sie ihre Emotionen nicht wahrnehmen, geschweige denn ausleben, selbst wenn sie misshandelt, missbraucht oder seelisch beziehungsweise körperlich vernachlässigt wurden. Sie hatten sich den Anweisungen der Eltern zu fügen und taten das auch, denn Kinder sind auf das Wohlwollen der Eltern angewiesen. Sie wollen von ihnen geliebt werden, um jeden Preis, auch um den Preis der Selbstaufgabe.
Selbstverleugnung der Kinder
Und so kommt es aus Angst vor Prügel und Liebesentzug und aus Pflichtgefühl dazu, dass Kinder sich selbst verleugnet haben, in der Hoffnung, die Liebe ihrer Eltern doch noch zu erfahren. Diese Bemühung war vergebens, denn kriegstraumatisierte Eltern sind nur in Ausnahmefällen in der Lage, ihre Kinder um ihrer selbst willen zu lieben. Kinder werden von solchen Eltern nur dann geliebt, wenn sie brav und gehorsam sind, gute Noten schreiben und keine Widerworte geben. Dadurch kommt es zu keinem entspannten und vertrauensvollen Verhältnis der Kinder zu den Eltern. Diese Kinder haben ständig Angst vor dem Liebesentzug, denn sie wurden nur wegen ihres Verhaltens geliebt.
Das vierte Gebot
Und jetzt kommt das vierte Gebot ins Spiel. Es schreibt Kindern bei Todesstrafe („… und Du lange lebest auf Erden“) vor, diese Eltern zu lieben und zu ehren. Das Gefühl, das die Kinder haben – Angst – wird von ihnen mit Liebe und Achtung verwechselt. Denn ganz egal, was die Eltern getan haben, die Kinder haben sie zu lieben, das ist eine der Grundlagen unserer Kultur. Dabei ist es eigentlich unmöglich, solche Eltern zu lieben, genau so wenig, wie man einen Tyrannen lieben kann.
Das ist eine schlimme Situation für Kinder. Schlimmer ist allerdings, dass sich diese anerzogene Unmöglichkeit, Liebe anzunehmen und dann auch zu geben, durch das ganze Leben fortsetzen kann. Wenn ein Mensch in seiner Kindheit gelernt hat, zu fühlen, was er fühlen soll und nicht zu fühlen, was ihm verboten wurde zu fühlen, wird er krank. Was ihn vor dieser Erkrankung schützen kann, ist, seine Kinder zur Projektionsfläche seiner eigenen uneingestandenen Emotionen zu machen. Somit gibt er sein mangelhaftes Gefühlsleben an seine Kinder weiter. Will er das vermeiden, muss er lernen, die eigenen Emotionen wahrzunehmen, indem er die Verletzungen der Kindheit aufarbeitet.
Die bedingte Liebe
Man kann Liebe nicht erzwingen, wo sie nicht ist. Moralische Appelle, sie trotzdem zu fühlen, führt auf die Dauer zu psychischen Problemen. Menschen mit diesen Problemen pflegen über ihre Kindheit zu sagen: „Meine Eltern waren streng, trotzdem haben sie mich geliebt“. Oder: „Eine Tracht Prügel hat noch niemandem geschadet!“ Diese Aussagen sind eine Folge davon, dass solche Menschen nie bedingungslose Liebe erfahren haben. Die Zuneigung der Eltern war immer an Bedingungen geknüpft, daran dass er brav war, oder gut in der Schule, erfolgreich und gehorsam.
Solche Kinder werden sich ein Leben lang anstrengen, die Liebe ihrer Eltern trotzdem noch zu erfahren, auch wenn die Eltern schon tot sind. Aber sie werden diese Zuneigung nie erhaschen, denn sie werden nie genügen. Sie haben ihren strengsten Kritiker, ihre Eltern, verinnerlicht, und diese Introjektion treibt sie immer weiter an, bis zum Burnout. Unbewusst heucheln sie Liebe, wo sie eigentlich hassen, und da sie ihre Eltern nicht hassen dürfen, hassen sie sich selbst. Wenn sie sagen: „Klar wurde ich als Kind verhauen, aber aus mir ist auch was geworden!“, möchte ich ihnen zurufen: „Und wie toll wärst Du geworden ohne die Prügel, mit bedingungsloser Elternliebe?“
Die Rolle der Psychotherapie / Psychoanalyse
Es war lange Zeit ein unumstößlicher Lehrsatz der Psychoanalyse und -therapie, dass man erst erwachsen werden könne, wenn man den Eltern ihre Übergriffe verzeihen und sie ehren würde. Manche Therapeuten haben das sogar von Vergewaltigungs- und Misshandlungsopfern verlangt – was ich als eine ungeheure Re-Traumatisierung empfinde. Oder sie haben – Freud folgend – die Erinnerungen der Kinder als Phantasien abgetan. Sie haben also die inzwischen erwachsenen Opfer in unzumutbare Rollen gedrängt und haben sich schuldig gemacht, weil auch sie vom vierten Gebot geprägt waren. Sie waren parteiisch für die Eltern, wo sie die hilflosen Opfer bedingungslos hätten unterstützen sollen.
Erst seit einigen Jahrzehnten nimmt die Psychologie diese Opfer ernst. Heute sucht ein Therapeut mit ihnen zusammen einen Weg, das Innere Kind zu schützen und zu pflegen und so aus der Opferrolle herauszukommen. Primär wird die Hilfe also nicht durch Vergebung, sondern durch Fürsorge für die eigene Seele gesucht. Dieser Weg ermöglicht es, eigene Gefühle wahrzunehmen und bringt die Liebesfähigkeit zurück.
Wissende Zeugen
Damit sich die Missbrauchs- und Misshandlungsopfer aus der Falle der falschen Gefühle befreien können, brauchen sie keine moralischen Instanzen, die ihnen sagen, wie sie sich zu verhalten haben. Sie brauchen Wissende Zeugen, die gut zuhören, damit sich die inzwischen Erwachsenen die Verletzungen aus der Kindheit bewusst machen können. Sie brauchen Dritte, weil sie gegen den Widerstand der eingeimpften Moral ankämpfen müssen. Die Zeugen sind „wissend“, weil sie erkannt oder erfahren haben, was Eltern ihren Kindern antun können, wenn sie selbst in der Kindheit traumatisiert wurden. Diese Eltern wollen den Kindern zwar nichts Böses, machen sie sich aber aus eigener Schwäche, Unsicherheit und Kränkbarkeit verfügbar. Das Kind übernimmt dann sogar die verständnisvoll sorgende Rolle für die Eltern. Seine eigenen berechtigten Ansprüche ein Kind zu sein wurden nie befriedigt.
Wissende Zeugen horchen auf allen Kommunikationskanälen, um so passende Interventionen finden zu können, die dem Klient helfen, aus der Falle der Hörigkeit zu entkommen. Sie werden den Klienten auch helfen zu akzeptieren, dass eine Trennung von den Eltern ein Mittel zur Gesundung sein kann. Und sie werden den Klienten durch den Trennungsschmerz helfen.
Fazit
Das vierte Gebot war in einer Stammesgesellschaft zum Überleben der Alten notwendig. Die Alten ihrerseits waren als Quelle der Erfahrung für den ganzen Stamm wichtig. Damals wurden die Kinder vom ganzen Stamm erzogen, nicht nur von den Eltern. Sie konnten sich also leicht vom Druck durch die Eltern befreien. Auch die notwendige Nestwärme mussten sie nicht nur von ihren Eltern erfahren. Denn wenn diese versagten, stand die ganze Sippe bereit. Denn „es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen.“
Dieses Wissen ist leider verloren gegangen und wird erst in letzter Zeit mühsam zurückerobert. Aber es bleibt dabei: eine Gesundung von Kindern, die nicht bedingungslos geliebt wurden, ist nur möglich, indem sie sich ihrer Defizite bewusst werden. Nur indem sie genügend Eigenliebe entwickeln, können sie Liebe an andere weitergeben, vor allem an ihre Ehepartner und ihre Kinder.
Literatur
- Ingrid Müller-Münch: „Die geprügelte Generation“
- Sabine Bode: „Kriegsenkel“
- Alice Miller: „Die Revolte des Körpers“