Schon Jungs sind männlich
Wird heute über die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen gesprochen, wird gerne auf die Biologie verwiesen. Ein Junge sein wird als Geburtsfehler betrachtet (Siehe auch „Männer – emotionale Analphabeten?„). Jungs seien testosterongesteuert und deshalb wild, geradezu gewalttätig.
Natürlich bilden Jungen schon im Mutterleib männliche Hormone, sie überschwemmen ihren Organismus geradezu damit. Denn sie müssen sich schließlich gegen die weiblichen Hormone der Mutter durchsetzen, sonst würden sie weiblich. Aber erklärt das allein den Unterschied?
Jungen haben nach der Geburt einen Testosteronspiegel wie ein Pubertierender, das lässt jedoch rasch nach. Das allein kann also nicht erklären, wie es zu unterschiedlichem Verhalten der Geschlechter kommt. Das hat auch mit der psychosozialen Entwicklung zu tun, die nicht mit der Sozialisation, also der Erziehung, verwechselt werden darf.
Jungs wollen männlich sein, Mädchen weiblich
Das sagt jedenfalls die moderne Psychoanalyse, die die Freud‘sche Vorstellung von Penisneid und Ödipuskomplex überwunden hat. Freud ist damals, durchaus verständlich aus seiner Herkunft und Sozialisation, über das Ziel hinaus geschossen. Das haben schon die besten seiner Schüler bemerkt und für ihre eigene Arbeit korrigiert. Das moderne psychoanalytische Modell der Entwicklung in der Kindheit erklärt jedoch einiges des kindlichen Verhaltens.
Die ersten Monate
In den ersten Monaten leben Kinder in einer vollständigen Symbiose mit der Mutter. Ich nenne hier die Mutter, meine aber jede Person, die ihnen Wärme, Geborgenheit und Nahrung gibt. Ist die gewohnte mütterliche Person nicht anwesend, wird genauso gerne eine andere Person, z.B. der Vater, akzeptiert. Das Konzept einer eigenen und eigenständigen Person ist vom Kind noch nicht verstanden, alle Menschen sind sozusagen eins. Es gibt den Symbiont und die Außenwelt, und ist der Symbiont unvollständig, die Mutter also nicht anwesend, ist das für das Kind mit großer Unsicherheit und seelischem Schmerz verbunden.
Entwicklung der eigenen Person
Sobald sich das Kind selbstständig fortbewegen kann, entwickelt es auch die Idee, eine eigenständige Person zu sein, jemand anderes als die Bezugsperson. Das wird spielerisch trainiert, indem sich das Kind vorsichtig von der Mutter wegbewegt und dann schnell wieder zurückkommt. Dabei muss es von der Mutter mit offenen Armen empfangen werden, um sich ihrer Zuneigung weiterhin sicher sein zu können. Auch das beliebte Versteckspiel dient keinem anderen Zweck.
Fehlt die Hinwendung der Bezugsperson, kann das Kind kein Urvertrauen entwickeln. Es wird – manchmal für sein ganzes Leben – gehemmt und unsicher sein und kein gesundes Selbstvertrauen entwickeln können.
Die Entdeckung der Geschlechter
Mit vier oder fünf Jahren stellen Kinder fest, dass die Menschheit sich in zwei Geschlechter einteilen lässt und sie einem davon angehören. Die Mutter wird als weiblich, der Vater als männlich erkannt. Es werden zum ersten Mal übergreifende Kategorien geschaffen, in die das Kind sich und andere einordnet.
Während diese Erkenntnis für Mädchen kaum Konsequenzen hat, steckt ein Junge in einem Dilemma. Er fühlt sich weiterhin mit der Mutter in Liebe verbunden, ist sogar von ihr abhängig. Er möchte aber seine Männlichkeit leben und sucht dafür Blaupausen. So muss er jetzt Abstand halten, weil die Mutter ein anderes Geschlecht hat. In ihr kann er die Männlichkeit nicht finden, so entfernt er sich von ihr, obwohl er sie weiterhin braucht.
Gelingt ein gesunder Abstand nicht, ist der Junge seines Geschlechts unsicher. Im schlimmsten Fall entwickelt er sich nie zu einem Mann, sondern bleibt ein groß gewordener, körperlich erwachsener kleiner Junge. Dies hat zur Folge, dass er sich seines Geschlechts stets versichern muss, indem er mit jeder verfügbaren Frau schläft. Er behält sein pubertär angeberisches pseudomännliches Verhalten. Insgeheim empfindet er Frauen als übermächtig und bedrohlich und projiziert auf sie die Verachtung, die er unbewusst für sich selbst empfindet.
Das eigene Geschlecht erkennen
Zur Loslösung vom anderen Geschlecht gehört gleichzeitig die Hinwendung zum eigenen. Der Vater wird als Modell gesehen, sofern der ein Modell sein kann. Männliche Personen werden in diesem Alter für den Jungen zunehmend wichtiger und bleiben es bis zum Ende der Pubertät. Ist der Vater nicht anwesend oder versagt, weil ihm selbst Männlichkeit fehlt, kann die Lösung von der Mutter nicht gelingen, was die oben genannten Folgen haben kann.
Im Übrigen wird der Vater auch für Mädchen als gegengeschlechtliches Modell wichtig. Im Idealfall erfährt es von und durch ihn, was ein erwachsener Mann ist.
Die ersten Geliebten
Die Tochter wird sich von der Männlichkeit des Vaters angezogen fühlen. Er wird ihr erster Geliebter. Der Sohn findet in der Mutter seine erste Geliebte – „Wenn ich groß bin, heirate ich Mama!“.
Hier darf es von Seiten der Erwachsenen nicht zu einem Missverständnis kommen. Die Verliebtheit der Kinder ist nie sexuell und darf in keinem Fall so erwidert werden. Erwachsene müssen hier Grenzen ziehen, ohne die Kinder zurückzuweisen oder abzuwehren. Das erfordert Feingefühl und Liebe, aber auch Entschlossenheit.
Mentoren statt Eltern
Als Modellpersonen für Weiblichkeit oder Männlichkeit dienen nicht nur Mutter oder Vater. Andere Personen werden oft von den Kindern angenommen und sind dann für die Entwicklung der Geschlechtsidentität wichtig. Ab der Vorpubertät braucht es sogar andere Personen, die als Mentoren dienen. Die Heranwachsenden öffnen sich dann auf besondere Weise ihren Lehrern, Trainern, Verwandten, ja sogar Pfarrern – und ihre weiblichen Gegenstücken. Die Mentoren haben dann die Pflicht, die Heranwachsenden zu begleiten und besonders zu schützen. Übergriffe führen hier zu Traumata, die die Betroffenen ein ganzes Leben verfolgen und oft nur mit großen Schwierigkeiten geheilt werden können.
Fazit
Wir sehen, es sind keine einfachen Aufgaben für die Männern und Frauen, die die Rolle von Väter und Müttern übernommen haben. Auf der einen Seite sollen sie den Kindern Sicherheit geben und sie halten, auf der anderen Seite sie loslassen und ihnen die altersgemäß notwendige Bewegungsfreiheit geben. Ich kann nur raten, sich mit dem Partner abzusprechen und anzuerkennen, dass die weibliche und die männliche Elternschaft zwei völlig verschiedene Dinge sind, die jeweils anderes Verhalten erfordern.
PS: Damit wir uns richtig verstehen, ein erwachsener Mann kann durchaus schwul und trotzdem ein ganzer Mann sein, so wie eine lesbische Frau eine reife Weiblichkeit haben kann. Die sexuelle Orientierung hat nichts mit Weiblichkeit oder Männlichkeit zu tun, das ist eine völlig andere Kategorie.