Getroffene Hunde bellen
Ein dreijähriges Kind schimpft lautstark über seine Eltern: „Blöde Mutti, blöder Vati!“ Fühlen wir uns getroffen oder gar beleidigt? Wohl kaum, denn wir trauen einem kleinen Kind kein valides Urteilsvermögen über uns zu. Was es sagt, trifft uns nicht, seine Bewertung hat für uns keine Relevanz. Im Zuge seiner Sozialisation werden wir ihm sagen, dass seine Aussagen ungehörig sind und dass er niemanden so beschimpfen darf. Wir wollen schließlich nicht, dass es sich angewöhnt, Leute als „blöd“ zu bezeichnen, aber getroffen fühlen wir uns durch diese Titulierung nicht.
Andererseits gibt es auch Eltern, die sich getroffen fühlen, zum Beispiel wegen ihres geringen Selbstwertgefühls. Denen „rutscht die Hand aus“, das Kleine bekommt also eine Ohrfeige, um das für sie notwendige Machtgefälle wieder herzustellen. Es hat sich schließlich angemaßt, seine Eltern zu beurteilen! Das geht gar nicht! Da muss man sofort etwas dagegen tun! Aber eigentlich geht es diesen Eltern darum, dass sie die Aussage des Kleinkindes geschmerzt hat, und diesen Schmerz wollen sie zurückgeben.
Wann nehmen wir eine Beleidigung ernst?
Etwas ganz anderes ist es, wenn unser 20-jähriger Sohn uns „blöd“ nennt. Dem traut jeder zu, dass er eine solche Aussage überlegt tätigt, dass das also kein spontaner Ausrutscher eines Kindes ist, das seine Gefühle noch nicht beherrschen kann, sondern eine gezielte Beleidigung.
Wenn uns allerdings jemand „blöd“ nennt, der uns nicht kennt, also ein Fremder, dem wir zum Beispiel anscheinend im Supermarkt im Weg gestanden haben, nehmen wir normalerweise dessen Beschimpfung genau so wenig ernst wie die eines Kindes. Er kennt uns nicht, sein Urteil ist also irrelevant uns sagt mehr über ihn aus als über uns.
Einige Leute pöbeln bei einer solchen Gelegenheit allerdings zurück, fangen vielleicht sogar eine Schlägerei an. Diese sind ihrer selbst nicht sicher, sie fühlen sich durch alles Mögliche beleidigt und in ihrer Ehre gekränkt. Und da sie nichts haben als ihre Ehre, müssen sie diese mit allen Mitteln verteidigen. Um sie zu beleidigen, reicht manchmal sogar ein Blick, den sie missverstehen: „Was guckst Du?“
Es kann allerdings auch einen anderen Grund geben, beleidigt zu sein. Wenn jemand in seiner Kindheit zum Beispiel von seinem Vater ständig als „blöd“ tituliert wurde, hat diese fortdauernde Beschämung seine Seele verwundet. Diese Person hat nun einen wunden Punkt, sie hört in jedem, der sie so bezeichnet, ihren Vater, gegen dessen psychischen Missbrauch sie sich damals nicht wehren konnte. Jetzt aber ist sie groß und stark, jetzt kann sie sich wehren und prügelt deshalb verbal oder tatsächlich auf denjenigen ein, den sie in dieser Situation mit ihrem Vater verwechselt.
Mangelndes Fehlermanagement
Anders ist die Situation, wenn jemand tatsächlich einen Fehler gemacht hat. Im Straßenverkehr hat er zum Beispiel einem anderen die Vorfahrt genommen, und der zeigt ihm den Vogel. Normalerweise würde er sich nichts daraus machen, aber er weiß, dass er einen Fehler gemacht hat. Und dann schmiert ihm der andere das auch noch genüsslich auf Butterbrot. Es ist zwar nichts passiert, das „heilige Blechle“ ist noch ganz, er könnte also mit einer Entschuldigung darüber hinweg gehen. Aber es gibt tatsächlich Leute, die in einer solchen Situation anhalten, aussteigen und dem Vogelzeiger Prügel androhen. Oder die wegen dieser Geste Gerichte bemühen, was nichts anderes ist, als wenn ein kleiner Junge sagt: „Warts nur ab, bis mein großer Bruder kommt, der verhaut Dich!“
Was ist der Grund? Ein Grund könnte sein, dass dieser Mensch nicht gelernt hat, mit eigenen Fehlern umzugehen. Fehler macht jeder, die sind nicht schlimm, man lernt aus ihnen. Wenn wir aber als Kind für jeden Fehler beschämt wurden, trifft uns als Erwachsener jeder eigene Fehler schwer. Wir sind wiederum beschämt und versuchen diese Beschämung dem anderen, der unseren Fehler gesehen hat, zu spiegeln. Wir können unseren Fehler nicht als Anregung sehen, über unser Verhalten nachzudenken und zu lernen. Der wunde Punkt wurde wieder getroffen und schmerzt unerträglich.
Pöbeln im Netz
Ein anderes treffendes Beispiel sind die sozialen Medien. Ich habe einen Beitrag veröffentlicht und irgendein Troll antwortet mit einer beleidigenden Äußerung. Ich könnte über einen solchen Beitrag hinweggehen. Wenn mich jemand als „Nazi“ beschimpft, weiß ich, dass das lächerlich ist. Entweder er kennt mich nicht, oder er weiß nicht, was er mit diesem Ausdruck sagt. Beschimpft er mich als „typisch liberaler Grüner“, könnte ich mich sogar geehrt fühlen, er hat doch erkannt, dass mir die Umwelt und die Freiheit des Menschen am Herzen liegen. Es könnte sogar sein, dass gar kein Mensch geantwortet hat, sondern ein Bot. Auf jeden Fall sollte ich die Regel „Don’t feed a troll!“ befolgen. Fühle ich mich allerdings getroffen und antworte auf gleichem Niveau, kommt es zu wüsten Hasstiraden.
Fazit
Das Sprichwort „Getroffene Hunde bellen“ ist zu einfach. Gegen eine echte Beleidigung, die uns in der Öffentlichkeit herabsetzt, müssen wir uns wehren, auch wenn sie uns eigentlich nicht trifft. Auf eine völlig lächerliche Anschuldigung brauchen wir nicht zu reagieren.
Fühlen wir uns durch sie aber getroffen, sollten wir überlegen, ob die Herabsetzung uns vielleicht nur deshalb getroffen hat, weil sie unseren wunden Punkt erwischt hat. Dann lohnt es sich nachzuforschen, woher diese alte Verletzung kommt und sie so weit wie möglich zu heilen.
Denn unsere Sprache ist da sehr genau. Ich sage: „Ich ärgere mich über Dich!“ Also ärgert nicht der andere mich, sondern ich ärgere mich selbst und projiziere den Grund des Ärgers auf den anderen. Wir sollten uns also überlegen, was uns in diesem Punkt verwundbar gemacht hat.