Allein ist nicht einsam
Wenn ich alleine bin, ist das ein objektiver Zustand. Allein sein heißt, dass mich niemand begleitet. Wenn ich einsam bin, besser, wenn ich mich einsam fühle, ist das hingegen eine subjektive Wahrnehmung. Ich kann durchaus alleine sein ohne einsam zu sein. Ich kann im tollsten Trubel oder bei der heißesten Fete, auch wenn mich also viele Menschen umgeben, durchaus einsam sein, nämlich dann, wenn ich mich keinem Menschen verbunden fühle.
Allein oder einsam?
Allein oder gar einsam sein ist in unserem Kulturkreis kein normaler Zustand. Das sieht man schon daran dass das Gegenteil davon nicht mit einem Wort beschrieben werden kann. Es gibt kein Wort für das Gegenteil von „alleine“. Man muss auf Konstrukte zurückgreifen wie“ in Gesellschaft “ oder alleine ausdrücklich verneinen, indem man „nicht alleine“ sagt. Noch deutlicher ist das bei einsam. Das Gegenteil von „einsam“ ist vielleicht „mit jemandem verbunden sein“, aber auch das ist ein umständliches grammatikalisches Konstrukt. All das weist darauf hin, dass allein oder einsam sein für unsere Gesellschaft die Ausnahme von der Regel ist.
Nun gibt es Leute die gerne und willkürlich alleine sind ähnlich einem Eremit oder einem Autisten. Auch ein Introvertierter wird das Alleinsein der Gesellschaft vieler Menschen phasenweise vorziehen. Von unserer Gesellschaft wird aber weder das alleine noch das einsam sein als ein akzeptabler Zustand gesehen, er wird geradezu pathologisiert. Jeder versucht uns einzureden, dass allein sein nicht gut für einen Menschen ist, ja dass es geradezu krank macht, allein zu sein. Dabei gibt es durchaus Aufgaben, die wir besser alleine lösen, Nachdenken, zum Beispiel, oder neue Ideen finden. Aber schon Kinder, die gerne alleine spielen, werden misstrauisch beäugt. Eltern haben Angst, dass ihre Kinder zu Eigenbrötler werden oder gar Autisten sind, nur weil sie einmal sich ab und zu alleine in ein Spiel vertiefen. Alleine sein wird als unsozial gesehen, und dieser Ausdruck ist schon nahe bei „asozial“. Dabei ist jemand, der manchmal gerne alleine ist, keineswegs mit einem Asozialen zu vergleichen, der zum Beispiel die Gesellschaft um viel Geld betrügt.
Auch die Einsamkeit hat einen schlechten Ruf. Eigentlich ist es durchaus normal, sich ab und zu einmal einsam zu fühlen. In der Romantik war die Einsamkeit ein Gefühl, das nicht gescheut wurde und mit Melancholie konnotiert war. Melancholie wurde als ein seelischer Zustand angesehen, der ein heilsamer Gegenpart zur manischen Zugewandtheit zur Welt war und somit für ein Gleichgewicht sorgte. Heute hingegen wird Einsamkeit und Melancholie immer als ein Mangel gesehen, der möglichst schnell zu beheben ist, mit möglichst viel Trubel oder mit Konsum. Der Einsame ist ein sonderbarer Kauz, so stürzen wir uns in Aktivitäten und begeben uns schnell offline oder online unter Menschen, um solche Gefühle zu vermeiden.
Introvertierte und Extravertierte
Introvertierte Menschen sind häufiger alleine und halten auch Einsamkeit ohne weiteres aus. Solange sie kein Dauerzustand ist, können sie sie sogar genießen. Sie haben aber einen schlechten Ruf, denn als Leistungsträger muss man heute Aktivität zeigen, auf Menschen zugehen, seine Meinung deutlich vertreten, kurz, man muss extravertiert sein. Introvertierte werden als Minderleister angesehen. Dabei ist es durchaus bekannt, dass zur Erfüllung einer Aufgabe auch introvertierte Menschen benötigt werden, ja dass diese in einer Krise sogar hilfreicher sind als aktionistische Extravertierte.
Der schlechte Ruf der Einsamkeit mag auch ein Grund sein, weshalb sich heute so viele Menschen einsam fühlen. Sie glauben, dass ihre sozialen Kontakte nicht ausreichen, denn sie vergleichen sich mit dem Bild anderer Menschen und fühlen sich nicht so akzeptiert wie diese. Sie können Einsamkeit nicht ertragen und begreifen sie als einen großen Mangel, was ihnen von der Gesellschaft auch so eingeredet und vorgegaukelt wird. Auch und gerade junge Menschen leiden an Einsamkeit, und sie kommen so wenig damit zurecht, dass dieses Gefühl bis zu einer Depression führen kann. Mangelt es diesen jungen Menschen nun an sozialen Kontakten? Keineswegs, gerade in sozialen Medien haben sie viele Kontakte. Was fehlt ihnen also?
Einsamkeit ohne allein zu sein ist, wenn sie als Mangel empfunden wird, die Unfähigkeit in soziale Kontakte zu kommen. Nicht der Mangel an sozialen Kontakten ist das Problem, sondern dass diese Kontakte mangelhaft sind. Durch unseren Individualismus und unsere Selbstverliebtheit haben wir verlernt, uns einem anderen Menschen zu öffnen. Hohe Arbeitslast und Karrierestreben lassen uns wenig Zeit für die Pflege sozialer Beziehungen, denn diese aufzubauen und aufrecht zu erhalten ist mit einem gewissen Aufwand verbunden. Dazu kommt, dass heute der Anspruch an unsere Sozialkontakte übertrieben hoch ist. Ein Freund beziehungsweise eine Freundin sollte die gleichen Ansichten über und die gleichen Ansprüche an die Welt haben wie wir. Eine vorbehaltlose Freundschaft, die auf reiner Sympathie beruht, ohne dass sie Ansprüche an das Gegenüber stellt, ist heute fast unmöglich.
Die Saat zur sozialen Unfähigkeit wird bei Kindern gelegt. Wenn ihre Kindheit verplant wird, so dass ihnen das Spielen mit anderen, ohne ein Ziel zu haben, unmöglich ist. Gerade dieses absichtslos Spiel trainiert aber die Fähigkeit der Kinder, soziale Beziehungen zu schließen, wobei es nicht darauf ankommt welches Spiel gespielt wird, sondern nur dass ein Spiel gespielt und oft genug wiederholt wird, an dem alle Kinder teilnehmen können und ihre sozialen Rollen lernen.
Fazit
Einsamkeit an sich ist weder eine Störung noch eine Krankheit. Erst wenn ich unter ihr leide, wird sie zur Störung, um die ich mich kümmern muss. Wir sollten wieder lernen, allein sein und auch die Einsamkeit nicht nur zu ertragen, sondern auch zu schätzen. Genauso wichtig ist es, die Nähe zu anderen Menschen zu pflegen. Das geht nur mit Offenheit. Wir dürfen unsere Gefühle nicht verleugnen und sollten anderen Menschen Zugang zu ihnen gewähren. Nur so sind soziale Kontakte sinnvoll und seelisch gewinnbringend. Ich begleite Sie gerne bei Ihren Bemühungen.