Die Steinsuppe
In einem kleinen Dorf in einem fernen Land – ich weiß nicht mehr, welches es war, auf jeden Fall irgendwo im hohen Norden – stand der Winter bevor. Die Dorfbewohner fürchteten, dass Väterchen Frost beschlossen hatte, besonders früh zu kommen und lange zu bleiben, denn schon hatte man Wölfe in der Nähe des Dorfes gesehen, und auch die Murmeltiere hatten sich in ihre Baue zurückgezogen.
Nun lebte in der Nähe des Dorfes, am Rande des Waldes, eine alte, weise Frau. Sie war den Dorfbewohnern ein bisschen unheimlich, denn durch das lange Alleinsein war sie etwas sonderbar geworden und hatte verlernt, sich zu unterhalten. Sie sagte meist nur einige Worte, und die auch nur dann, wenn es unbedingt notwendig war. Aber sie kannte den Wald, die Tiere und die Pflanzen, und so wusste sie, welches Kraut bei welcher Krankheit hilft. Sie kannte alle Knochen im Körper der Menschen und Tiere, denn sie hatte beiden oft bei Unfällen geholfen. Sie konnte mit den Fingern sehen, wenn sie eine Verletzung abtastete. Einmal hatte sie sogar einen Bären geheilt, der in eine Falle geraten war. Die Dörfler konnten über diese Tollheit nur den Kopf schütteln, aber sie kamen zu ihr, wenn sich einer beim Holzmachen mit der Axt ins Bein gehackt hatte, wenn die Kinder rote Flecken bekamen oder der Vater einen schlimmen Husten oder wenn ein Kind nicht auf die Welt kommen wollte. Und meist konnte sie helfen. Und wenn nicht, konnte sie das Sterben leichter machen, denn so schroff wie sie war, mit Kranken ging sie ganz sanft um.
Und so kam der Dorfälteste auch zu ihr, die Dorfbewohner hatten ihn geschickt. Eigentlich wollte er nicht, er konnte die Alte nicht leiden, er fühlte sich bei ihr immer wie ein kleiner, dummer Junge. Dabei war er doch schon seit langem der Erste im Dorf und hatte auch schon ein paar graue Haare. Aber das scherte sie nicht, wenn er zu ihr kam, selten genug, scheuchte sie ihn wie alle anderen auch. Und so machte er ihr klar, dass er nicht aus eigenen Stücken gekommen sei, sondern nur weil einige ihn gebeten hätten, ihren Rat zu suchen. Er redete lang und breit von den Zuständen im Dorf und wie schwer sein Amt sei, aber sie werkelte nur in ihrem Garten herum. Und dann rückte er mit seinem Anliegen heraus: „Es scheint, es wird ein langer, strenger Winter.“ Sie nickte. „Die Leute möchten Dich fragen, ob Du nicht weißt, wie sie sich darauf vorbereiten können.“ Die Alte überlegte lange, er hoffte schon, ihr würde nichts einfallen. Doch schließlich schaute sie ihn scharf an, wie ein Habicht, und er fühlte sich wieder klein und unbedeutend, und befahl dann mit ihrer ungeübten, krächzenden Stimme: „Am Sonntagnachmittag kommt ihr alle her, Männer und Frauen, Kinder und Greise. Du auch. Jeder bringt einen sauberen Stein mit, faustgroß, eine Suppenschale und ein paar Scheite Holz. Und Du bringst außerdem den großen Eisenkessel, auf den Deine Frau so stolz ist. Wir kochen eine Steinsuppe, zieht Euch warm an, das dauert!“ Das war eine lange Ansprache für sie gewesen, und als wäre sie vom Reden erschöpft, ließ sie ihn stehen und zog sie sich in ihre Hütte zurück, wobei sie die Tür mit einem lauten Knall schloss. Er war entlassen.
Am Sonntag kam nach und nach das ganze Dorf zu ihrer Hütte, keiner hatte gewagt, nicht zu kommen, denn ein bisschen fürchteten sich alle vor der Alten. Und sie scheuchte die jungen Burschen, sie sollen Wasser holen, und ein paar Männer sollten den Kessel an ein Dreibein hängen und die Frauen sollten Feuer machen. Dann musste einer nach dem anderen zum Kessel gehen und seinen Stein hineinwerfen. Rundum sollte nun jeder sich um das Feuer kümmern, denn die Suppe müsse jetzt stundenlang simmern. Dann setzte sie sich vor ihre Hütte, machte die Augen zu und genoss die letzten Sonnenstrahlen.
Die Dörfler standen nun herum, denn bis auf die Feuerwache gab es nichts mehr zu tun. Und so redeten sie miteinander, und schnell kam die Rede auf den bevorstehenden Winter. Und da erzählte die alte Ida, der sonst keiner mehr zuhörte, weil sie nur von alten Zeiten sprach, wie sie gehört hätte, was der Großvater von seinem Großvater gelernt hätte, wie man nämlich in einem harten Winter die Wölfe aus dem Dorf treiben konnte, damit sie nicht ans Vieh gingen. Und weil die anderen nichts Besseres zu tun hatten, hörten sie ihr zu. Und bald rückte ein anderer mit einer alten Geschichte heraus, einem Tipp, der bei Frost helfen könne. Und ein dritter erzählte, wie man beim Heizen Holz sparen könne. Und auch denen hörte man zu. Sogar die Kinder hatten Ideen, die waren neu und ungewöhnlich und manche konnten nicht funktionieren, aber andere waren gar nicht so blöd. Und auch den Kindern hörte man zu, man hatte ja nichts Besseres vor. Man stand ums Feuer, wärmte sich, redete und hörte einander zu.
Als nach vielen Stunden der Gesprächsstoff ausgegangen war und es still wurde, erhob sich die weise alte Frau, ging zum Suppentopf, kramte ein paar Kräuter und etwas Salz hervor, warf alles in den Topf, rührte noch einmal um und krächzte dann: „Suppe ist fertig. Jeder kriegt was.“ Und die Dörfler stellten sich an und löffelten dann ihre Suppe, die nach Wasser schmeckte und ein bisschen nach Salz und Erde. Als sie fertig gegessen hatten, rief die Alte: „Jetzt räumt auf – picobello, ich will morgen keine Reste mehr sehen – und dann verschwindet. Die Steine schlichtet ihr mitten auf dem Marktplatz auf!“ Und sie humpelte etwas, als sie in ihre Hütte zurück ging. Vielleicht hatte sie doch zu lange in der Kälte gesessen.
Der Winter wurde hart und lang, härter und länger als jeder, an den sich die Dörfler erinnern konnten. Aber sie erinnerten sich auch an die Tipps, die sie bei der Steinsuppe gehört hatten, denn der Steinhaufen erinnerte sie daran, und die meisten funktionierten. Und so starb niemand außer der alten Ida, und die war schon lebenssatt gewesen und wollte schon lange nicht mehr. Aber sogar die Kinder überlebten alle, und das war noch in keinem Winter passiert. Als es wieder Frühjahr wurde und die Wege ins Nachbardorf wieder passierbar, stellten sie fest, dass dort viele Häuser leer standen, weil die Bewohner in dem harten Winter gestorben waren. Und die anderen wunderten sich, wie unser Dorf so gut durch den Winter gekommen war. Da wurden sie zur Steinsuppe eingeladen.
Und in Zukunft gab es immer Steinsuppe, wenn eine schwere Entscheidung anstand oder ein ernster Streit zu schlichten war. Der Dorfälteste wurde im ganzen Umkreis so berühmt für seine Weisheit, dass er fast vergaß, wer die erste Steinsuppe gekocht hatte. Der Steinhaufen auf dem Marktplatz wuchs und wuchs, bis er schließlich störte. Und so kam man – natürlich bei einer Steinsuppe – auf die Idee, den Platz damit zu pflastern. Die Leute kamen von weither, um dieses Wunder zu bestaunen.
Was aber machte die alte, weise Frau? Nun, was sollte sie schon machen? Heiße Umschläge und Wadenwickel und Verbände und sie half Kindern auf die Welt, so, wie sie es schon immer getan hatte. Aber als sie den gepflasterten Marktplatz sah, musste sie doch heimlich grinsen – aber erst, als sie sich umgeschaut hatte, um sich zu vergewissern, dass das auch niemand sah.