Das Problem mit dem „Ist“
„Ist“ – ein kleines, unschuldiges Wort, was aufgrund seiner Mehrdeutigkeit unser gesamtes Denken beeinflussen kann – und es auch tut.
„Ist“ – ein Wort, hundertfach benutzt, aber selten in seiner Bedeutung hinterfragt.
„Ist“ – zweideutig schillernd, obwohl es eindeutig, wie in Beton gegossen, zu sein scheint.
Worte
Worte sind Zauber, sie bahnen1 unser Denken und lassen uns Dinge tun, die wir ohne sie nicht getan hätten. Aber der Zauber eines Wortes ist für jeden Menschen unterschiedlich. Denn ein Wort ist beladen mit seiner Bedeutung, und die Bedeutung macht seinen Zauber aus. Diese gründet sich aber in den Erinnerungen und dem Erleben eines Menschen. Und so haben Worte unterschiedliche Konnotationen2 und wecken in jedem Menschen unterschiedliche Bilder. Denn Worte haben, anders als wir oft denken, keine von vornherein gegebenen und unabhängigen Bedeutungen. Sie ändern ihre Bedeutung, je nach Sprecher, Zuhörer, Kontext und Umgebung. Und so zaubern Worte.
Wenn ich also etwas sage, weiß ich nie, welche Bilder ich im Anderen wecke und was er verstanden hat, es sei denn, er erklärt es mir. Aber ich muss auch dabei vorsichtig sein, denn es könnte ja sein, dass die Bilder, die seine Worte in meinem Kopf ausgelöst haben, nicht mit seinen übereinstimmen. Ich muss also sicherstellen, dass ich seine Worte so verstehe, wie er sie verstanden wissen will, indem ich die von mir verstandene Bedeutung spiegele. Das kann zu einem langen Gespräch über einen scheinbar einfachen Zusammenhang führen, was durchaus nichts Schlechtes bedeuten muss. Denn je tiefer unser Gespräch geht, desto näher fühle ich mich dem Anderen. Nähe ist aber ein kostbares Geschenk, das wir hegen und pflegen sollten wie eine zarte Blume, die ohne unsere Aufmerksamkeit zugrunde ginge.
Es gibt sicher auch Situation, bei denen die Verständigung präzise und eindeutig sein muss, zum Beispiel in Notsituationen. Menschen, die professionell mit solchen Situationen umgehen müssen – Polizei, Feuerwehr, Militär – bedienen sich dann einer hochgradig formalisierten Sprache. Die Bedeutung der einzelnen Worte wurde dabei vorher genau festgelegt. Diese Sprache kommt uns allerdings eingeschränkt und hölzern vor.
Zurück zum „Ist“
Da „Ist“ ein so häufiges Wort ist, lohnt es sich, darüber nachzudenken. „Ist“ hat nämlich drei Bedeutungen:
- „Ist“ als Eigenschaft. („Die Rose ist rot.“)
- „Ist“ als Verhalten. („Der Stier ist wütend.“)
- „Ist“ als Identität. („Zwei mal zwei ist vier.“)
- „Ist“ als Kategorisierung. („Die Rose ist eine Blume.“)
Solange es sich dabei um Gegenstände, Pflanzen oder Tiere dreht, ist eine Fehlinterpretation weniger schlimm. Aber was passiert, wenn wir Menschen mit einem „Ist“ verknüpfen, also zum Beispiel „Dieser Schüler ist dumm“? Wenn wir das „Ist“ hier als eine Identität verstehen – und häufig wird es so verstanden – dann ist dieser Schüler mit Dummheit identisch. Dabei hat er sich vielleicht nur in einer bestimmten Situation dumm verhalten, in jeder anderen verhält er sich vielleicht höchst kompetent. Sein „Dumm-Sein“ ist also ein Verhalten, keineswegs eine Eigenschaft. Und dieses Verhalten ist nur in einer bestimmten Situation gegeben, in einem bestimmten Kontext – meinetwegen in einer Prüfung oder in einem Fach oder bei einem bestimmten Lehrer. Ein anderes Beispiel dafür: „Dieser Sportwagen ist schnell.“ Wirklich? Auch wenn er parkt? Und auch die Rose leuchtet nur rot, wenn weißes Licht auf sie fällt.
„Ist“ und seine Folgen
Was passiert also, wenn man Menschen mit „Ist“ eine Eigenschaft zuweise, obwohl man eigentlich ein Verhalten meint? Andere werden das Zugewiesene auch als eine Eigenschaft betrachten, werden die Aussage also so verstehen, dass der Schüler immer und in allen Lebenslagen dumm ist. Sie werden vielleicht sogar den Schüler mit Dummheit gleichsetzen. Und der Schüler selbst wird sich mit der Zeit auch für dumm halten und keine guten Leistungen mehr zeigen können. Man hat also einen (weiteren) wunden Punkt bei dem Schüler geschaffen. Ich kenne das von mir selbst, mein Französischlehrer hat es geschafft, mir einzureden, ich sei zu dumm für Französisch, nur weil ich bei der ersten Klassenarbeit versagt hatte. Den Rest meiner Schulzeit habe ich um eine vier in Französisch kämpfen müssen, was mich so viel Zeit gekostet hat, dass ich für andere Fächer weniger arbeiten konnte.
Ich finde es unverschämt und als eine Selbstüberschätzung ohnegleichen, einem Menschen eine Eigenschaft zuzuweisen. Man tut damit so, als kenne man den ganzen Menschen, sein gesamtes Wesen. „Menschen haben keine Eigenschaften, sie tun nur so!“ ist ein wichtiger Satz aus dem systemischen Denken. Das sollten wir bedenken, bevor wir einen Menschen mit einem „Ist“ mit seinem Verhalten so verbinden, dass es in der Vorstellung anderer zu einer Eigenschaft wird.
Fazit
Vorsicht also mit schnellen Zuweisungen! Das unschuldig scheinende „Ist“ hat schon viel Unheil angestellt. Wenn es im Zusammenhang mit Völkern und Bevölkerungsgruppen missbraucht wurde, hat es sogar Kriege und Pogrome ausgelöst. Worte können also auch Waffen sein, und so wollen wir sie bitte nicht benutzen.
Wenn Sie etwas über das systemisch Denken oder die gewaltfreie Kommunikation erfahren möchten, dürfen Sie mich gerne kontaktieren.
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- bahnen: durch die Verwendung eines Begriffs wird das Denken der Zuhörer oder Leser in eine bestimmte Richtung gelenkt. Wenn man zum Beispiel in ein Verkaufsgespräch die Zahl „50“ einfließen lässt – nicht als Preis, sondern in einem ganz anderen Zusammenhang -, sind Kunden eher bereit, für den Artikel 40€ zu bezahlen – das kommt ihnen dann günstig vor – als wenn man „10“ sagt.
- Konnotation: In diesem Zusammenhang die Nebenbedeutung eines Wortes, die nicht für jeden gleich sein muss. So hat das Wort „Sonne“ für uns oft die Nebenbedeutung „hell, freundlich“, in Wüstenregionen hingegen „gleißend, erbarmungslos“.