Hat Ödipus gesündigt?
Wir alle kennen die griechische Sage von Ödipus, der seinen Vater erschlagen und seine Mutter geheiratet hat. Ich habe über diese Sage schon einmal geschrieben (Siehe: „Laios muss nicht sterben„) und habe sie dort anders bewertet als Freud, der aus ihr den Ödipus-Komplex abgeleitet hat. Aber es gibt in meinen Augen noch einen weitere Missinterpretation: Wir glauben, dass Ödipus der Sünder in dieser Sage ist. Ich denke, diese Vorstellung ist falsch.
Die Ursünde
Die Ursünde in dieser Sage ist meiner Meinung nach nicht, dass Ödipus seinen Vater erschlagen und seine Mutter geheiratet hat. Die Ursünde ist, dass sein Vater Laios, der König von Theben, nicht fähig ist, anzuerkennen, dass er eines Tages alt sein wird und sein Sohn ihn vom Thron stürzen wird. Das ist ganz in Ordnung ist, es ist der von den Göttern festgelegte Lauf der Dinge.
So versteht er den Spruch des Orakels falsch, das weissagt, dass sein Sohn eines Tages den König töten würde. Als Mensch hätte er weiterleben können, nur nicht als König. Wenn ein König alt und schwach wird, oder wenn er eine schwerwiegende Behinderung hat, muss er abdanken. Aus Angst versucht er seinen Sohn umzubringen, also den Lauf der Dinge aufzuhalten. Das aber muss misslingen, Ödipus, als Baby ausgesetzt, wird von anderen Eltern an Kindes Statt angenommen. Selbst wenn Ödipus gestorben wäre, wäre eines Tages jemand gekommen, der Laios als König ablöst.
Die Hybris, ewig leben zu wollen
Aufgrund seiner Sünde, sich dem Lauf der Dinge entgegenzustellen, entsteht in seinem Reich ein Ungeheuer, die Sphinx, das Menschen ein Rätsel stellt und sie tötet, wenn sie das Rätsel nicht lösen können. Der König hätte das Land erlösen können, hätte er seine Sterblichkeit akzeptiert. So wird er mit dem Tode bestraft: in einem lächerlichen Streit um die Vorfahrt wird er mitsamt seinem Wagenlenker von Ödipus, der ihn ja nicht kennt, erschlagen.
Das Rätsel der Sphinx ist passenderweise ein Rätsel über das Altern: „Was hat am Morgen vier Beine, am Mittag zwei, und am Abend drei!“ Das beschreibt natürlich das Altern des Menschen. Da der König sich nicht der Konsequenz des Alterns gestellt hat, müssen es seine Untertanen tun und scheitern, denn es ist Aufgabe des Königs, Rätsel zu lösen, die das Reich betreffen. So ist es schlüssig, dass Ödipus König wird, nachdem er das Rätsel des Alterns gelöst und das Land von dem Ungeheuer befreit hat. Um seine Herrschaft zu legitimieren – keiner weiß von seinem königlichen Blut, auch er selbst nicht – muss er Iokaste, die Witwe des Königs ehelichen, nicht wissend, dass sie auch seine Mutter ist.
Die transgenerationale Schuld des Königshauses
Nachdem das Königshaus Schuld auf sich geladen hat, denn die Herrschaft des Königs basiert auf Mord und Blutschande, erkrankt auch das Reich: eine Seuche bricht aus. Sie zwingt Ödipus, nach dem Mörder seines Vaters zu suchen, er findet ihn schließlich in sich selbst. Aber auch Ödipus kann seine Schuld nicht verarbeiten, da sein Vater ihm nie beigebracht hat, wie das geht. Als er das ganze Ausmaß seiner Schuld erkennt, blendet er sich, um sie nicht mehr sehen zu müssen. Blenden ist allerdings das untauglichste Mittel der Sühne, denn durch das Blenden macht er sich unfähig, seine Schuld anzuschauen und zu erkennen. Er bleibt blind für sein Handeln, blind, wie er es schon durch sein Nichtwissen war. Darüber hinaus macht er sich unfähig, aus eigener Kraft zu leben. Da er nun verkrüppelt ist, muss er als König zurücktreten und in die Verbannung gehen.
Damit folgt er seinem Vater nach: er überträgt seine Schuld und seine Verletzung auf die folgende Generation. Denn er zwingt durch seine Tat, die ihn hilflos macht, seine Tochter Antigone – die gleichzeitig seine Halbschwester ist – dazu, ihn zu pflegen und zu führen. Er parentifiziert sie so, wie er selbst parentifiziert wurde. Er wurde zum Ehemann der Mutter, seine Tochter wird zur Mutter ihres Vaters, da sie für ihn sorgt und ihn nährt. Er zwingt sie, als Kind der Schande diese Schande an seiner Stelle und mit ihm zu leben. Seine Tochter kann somit ihr eigenes Leben nicht eigenständig führen. Das Trauma wird transgenerational.
Aber die Geschichte geht noch weiter: Antigone wird von ihrem Onkel Kreon, dem Bruder der Iokaste, in blutschänderischer Absicht verfolgt, um seine Herrschaft zu legitimieren, nachdem er den Thron von Theben an sich gerissen hat. Die Sage macht also ganz klar: wird eine Schuld nicht verarbeitet, sind die Nachkommen gezwungen, sie zu tragen und die Sünden der Väter (und Mütter) zu wiederholen. Antigone kann allerdings den Teufelskreis durchbrechen: sie wird von Theseus gerettet. Aber das ist eine andere Geschichte.
Fazit
Die Sagen sprechen meist von der Schuld der Väter, die die Kinder weitertragen müssen. Eigentlich sind es aber Traumata, die von den Eltern nicht verarbeitet wurden und die deshalb – völlig unbewusst – von den Kindern übernommen werden. (Siehe „Vererbte Traumata“) Wir haben als Eltern die Pflicht, genau hinzuschauen, um die Traumata, die wir erlebt oder ererbt haben, zu erkennen und aufzulösen, um unseren Kindern nicht eine unverschuldete Last mit auf den Lebensweg zu geben. Dazu ist es nie zu spät, solange wir leben und unsere Kinder mit uns sprechen, können wir durch Verarbeitung und Offenheit verhindern, unsere Traumata an die nächste und übernächste Generation weiterzugeben. Schuld und Trauma sollte gerechterweise von demjenigen/derjenigen getragen werden, den/die es angeht. Wir können sie sogar dann an unsere Vorfahren zurückgeben, wenn diese längst tot sind oder wenn wir den Verantwortlichen nicht kennen. Eine systemische Aufstellung kann dabei gute Dienste leisten.