Erinnerungen an nicht Erlebtes
Ich habe eine neue Kindheitserinnerung. Sie ist nicht meine, aber ich habe sie in meine Vita eingebaut, und deshalb ist sie doch ein Stück weit meine. Auch, weil ich sie so gerne habe, gehört sie zu mir:
Ich bin dreieinhalb Jahre alt, es ist Sommer und die Sonne scheint. Aber in der Nacht hat es ganz toll geregnet, überall stehen Pfützen. Sie sind schlammbraun, doch wenn sich der Himmel in ihnen spiegelt, sind sie blau, wenn man richtig hinguckt. Weil es überall so nass ist, habe ich große, quietschgelbe Gummistiefel an. Sie sind eigentlich zu groß, aber weil ich ja schon ein großer Junge bin, passen sie zu mir. Außer den tollen Stiefeln habe ich nichts an. Und so springe ich in die Pfützen, und das Wasser platscht, und ich lache, weil es kitzelt, wenn mir die braune Brühe den Körper hinunter läuft. Und dann setze ich mich in die größte Pfütze, die ich finden kann. Sie reicht mir bis zum Bauch. Das Wasser ist warm, aufgewärmt von der Sonne, und ich sitze weich auf dem Schlamm am Boden der Pfütze.
Ich weiß, dass das nicht meine Erinnerung sein kann. Meine Mutter hätte mich sofort aus der Pfütze gezogen: Du machst Dich dreckig, und außerdem sind Bazillen im Wasser, also raus da! Und guck mal, wie Du aussiehst, und Deine schönen neuen Stiefel! Dann hätte es noch ein paar auf den Po gegeben. Aber dieses Introjekt meiner Mutter ist mir egal, die Erinnerung an die Pfütze bleibt trotzdem meine. Auch wenn ich weiß, dass das ein Erlebnis meines Sohns ist, das ich nur beobachtet habe, tut sie mir trotzdem gut. Denn ich mache sie mir zu eigen, eine Erinnerung ausleihen tut ja niemandem weh.
Wir sind nicht die Opfer unserer Vergangenheit
Und so werde ich ganz fröhlich, wenn ich an den sonnigen Tag mit den Riesenpfützen denke. Und ich spüre ganz genau, wie das schlammige Wasser auf meine Haut spritzt und ich sehe, wie ich, als es getrocknet ist, bemalt bin wie ein Indianer. Denn „Es ist nie zu spät, eine schöne Kindheit zu haben.“(Ben Fuhrmann)
Man glaubte früher, dass eine Kindheit unter schwierigen Bedingungen zu einem unglücklichen Erwachsenenleben führen muss. Heute weiß man, dass das sein kann – oder auch nicht. Denn die Vergangenheit bestimmt keineswegs die Gegenwart, wohingegen meine gegenwärtigen Gedanken, mein jetziges Wissen mein Erleben der Vergangenheit bestimmen (Gunther Schmidt). Weil wir die Gegenwart und die Vergangenheit immer durch eine Brille betrachten, deren Farbe von unserem vorher Erleben und unserem Unbewussten abhängt, können wir weder die Gegenwart noch unsere Erinnerungen so sehen, wie sie „echt wirklich und wahrhaftig und tatsächlich“ sind.
Der Konstruktivismus
Viele bezweifeln sogar, dass es diese „wirklich wahre Wirklichkeit“ von uns wahrgenommen werden kann. Denn Erinnerungen werden platzsparend in unserem Gehirn aufbewahrt, nicht als Film, sondern als bruchstückhafte episodische Erzählung mit einzelnen Bildern. Das Fehlende wird dann von uns blitzschnell und unbewusst ergänzt – so wie es gerade passt. Durch diese Einfügungen sind unser eigener „Wirklichkeitskellner“. Wir bieten uns selbst Versionen dessen an, was wir erlebt haben, und wählen dann selbst die jetzt gerade passende aus. Wir denken also wie ein Kellner, der Speisen anbietet, die dann vom Gast nach Stimmung und Laune ausgewählt werden. Nur dass Kellner und Gast Anteile der gleichen Person sind.
Man nennt die Denkrichtung, die zu dieser Auffassung führt, Konstruktivismus. Früher hat man den menschlichen Geist als eine Art Videothek angesehen, in der die episodischen Erinnerungen unveränderbar, „so wie es wirklich passiert ist“, abgelegt sind. Diese Vorstellung, der sogenannte Positivismus, wird inzwischen von einer großen Mehrheit der Therapeuten, Psychologen und Neurologen abgelehnt. Nun wird akzeptiert, dass jede Erinnerung und jedes Erleben der Gegenwart persönlich und von der momentanen Stimmung gefärbt, ja unter Umständen sogar total verändert wird. Wenn also zwei Personen etwas Erlebtes total unterschiedlich schildern, lügt keine von beiden und keine irrt sich. Selbst wenn die selbe Person das Erlebte zu unterschiedlichen Zeiten oder in einem unterschiedlichen Kontext unterschiedlich schildert, lügt sie nicht und irrt sich nicht. Sie sagt die Wahrheit, so, wie sie nun einmal gerade für sie ist.
Und so sind wir unseren Erinnerungen an die Vergangenheit nicht mehr hoffnungslos ausgeliefert, und wir sind keineswegs Opfer unserer Kindheit, denn wir können uns bewusst machen, dass wir diese selbst in jedem Augenblick neu gestalten. Oder wie Gunther Schmidt sagt: „Wie meine Kindheit war? Ja, welche Kindheit meinen Sie denn? Ich habe Hunderte von Kindheiten! Die Vorstellung, nur eine zu haben, wäre doch wohl ziemlich einseitig!“