Aberglaube
Wir Menschen sind recht gut darin, kausale Zusammenhänge zu begreifen, vor allem wenn diese relativ einfach sind. Haben wir genügend Zeit, um über komplizierte Zusammenhänge nachzudenken, können wir auch diese entschlüsseln und deren weiteres Verhalten vorhersagen. Das führt dazu, dass wir glauben, dass jede Wirkung eine eindeutige Ursache hat. Leider stimmt das nicht immer. Manchmal sind Zusammenhänge nicht monokausal, haben also nicht nur eine Ursache, in anderen Fällen ist der Zusammenhang überhaupt nicht zu entdecken.
So ist ein komplexes Verhalten kaum zu entschlüsseln, und ein chaotisches Verhalten lässt sich nicht, oder zumindest nicht für längere Zeit, vorhersagen. Denken wir nur an das Wetter. Dessen Verhalten ist chaotisch, kleine Änderungen der Anfangsbedingungen führen zu großen Auswirkungen. Unsere Meteorologen können Wetter schon deshalb nicht für längere Zeit vorhersagen, weil sie die Anfangsbedingungen, die sie in ihre Berechnungen einführen, nicht in beliebiger Genauigkeit und nur punktuell kennen.
Weil wir aber so viel Erfolg damit haben, das Verhalten nichtchaotischer Systeme vorherzusagen, versuchen wir auch, Wirkungen chaotischer Systeme auf eine Ursache zurückzuführen. Diese kausale Verknüpfung ist aber unzulässig und führt zu falschen Ergebnissen.
Solange wir in einer überschaubaren Welt leben – überschaubar jedenfalls in dem Verhalten, das für uns relevant ist – sind diese Zusammenhänge anscheinend leicht zu finden. Beim Wetter, was immer eine wesentliche Rolle spielt, ist das nicht der Fall. Da finden sich dann trotzdem Zusammenhänge, zum Beispiel regnet es, weil ein Kind seinen Teller nicht leergegessen hat, oder es hagelt, weil die Götter mit unseren Opfern unzufrieden sind. So werden wir zufrieden mit unserem Erklärungsmodell, es scheint in sich geschlossen.
Dass es regnet, wenn der Teller nicht leer gegessen wurde, oder dass man sich streitet, wenn Salz verschüttet wurde, dass Unglück droht, wenn eine schwarze Katze von links nach rechts über den Weg läuft, all das ist natürlich Aberglaube, das wissen wir alle.
Wie kommt es aber nun zu solchem Aberglauben?
Dazu gibt es einen Versuch eines Verhaltensforschers mit Tauben, denn auch die entwickeln eine Art Aberglauben. Man hat viele Tauben in einzelne Käfige gesteckt, ohne dass sie sich gegenseitig sehen konnten. Jeder Käfig hatte einen Futterautomaten, der völlig zufällig ein Korn in den Käfig fallen ließ. Wenn nun in dem Augenblick, in dem das Korn erschien, die Taube gerade eine Drehung nach links macht, so glaubt sie, hier sei ein Zusammenhang, Sie wiederholte die Drehung also, um wieder ein Futterkorn zu erhalten, und wenn sie das oft genug macht, kommt zufällig das nächste Futterkorn, was für sie eine Bestätigung des Zusammenhangs zwischen Drehung und Fütterung ist. Nach einiger Zeit waren alle Tauben damit beschäftigt, unterschiedliche, aber sinnlose Handlungen auszuführen, jede in dem Glauben, durch diese Handlung eine Fütterung auszulösen. Die Tauben waren „abergläubisch“ geworden.
Das Gleiche passiert auch uns Menschen. Sobald das ins Spiel kommt, was wir als Zufall bezeichnen, werden wir nämlich unsicher. Wir können die Kausalkette nicht zurückverfolgen. Da wir aber gewohnt sind, kausal zu denken, vermuten wir in einer Koinzidenz, also einer zufälligen Aufeinanderfolge von Ereignissen, eine nicht vorhandene Kausalität. Wird eine solche Koinzidenz zufällig mehrfach bestätigt, wird sie in der Vorstellung der Menschen zu einer gesicherten Kausalität. Der logische Zusammenhang dieser Ereignisse wird als wahr angenommen und wird so zu einem Aberglauben.
Götterglaube als soziale Bindungskraft
Wir vermuten, dass höhere Mächte einen Einfluss auf den Alltag zu haben, wenn wir keine Kausalität erkennen können. Mit der Zeit setzt sich die Meinung durch, mit diesen Kräften sei nicht zu spaßen, sie seien eifersüchtig und rachsüchtig und würden die verfolgen, die ihren Geboten nicht gehorchen. Und noch schlimmer, es gäbe eine Art Sippenhaft, wenn einer den Geboten nicht folgt, werden alle Menschen bestraft – so wie es für alle Menschen regnet, weil ein Kind den Teller nicht leergegessen hat. Die Gesellschaft hindert also den Einzelnen daran, zu „sündigen“, aus Angst, dass dann die gesamte Gesellschaft bestraft wird. Aus einem Aberglauben ist ein gesellschaftliches Gebot geworden.
Das also ist einer der Gründe, wahrscheinlich sogar der wichtigste, warum frühe Gesellschaften, deren Erfolg von Zufällen wie dem Wetter oder Naturkatastrophen beeinflusst wurden, zu einem Götterglauben kamen. Agrar- und Hirtenkulturen konnten es sich nicht leisten, durch eine Katastrophe wesentlich beeinträchtigt zu werden, denn sonst hätten andere Kulturen die Herrschaft über die Geschwächten übernommen. Diese Götter mussten stark sein, denn sie mussten dabei helfen, sich der Nachbarn zu erwehren. Und die Gesellschaft musste die Götter gegen die „Ketzer“ in den eigenen Reihen oder gegen andere Kulturen verteidigen. So kam es zum ersten Mal zum Krieg. Krieg ist eine Erscheinung, die erst mit Land- und Viehbesitz und mit einem exklusiven Götterglauben auftrat, Jäger- und Sammlerkulturen haben keine Kriege geführt. Sie besaßen nichts, für das es sich zu sterben gelohnt hätte.
Fazit
Götter waren und sind also in der Vorstellung der Menschen die übernatürlichen Ursachen für Wirkungen, für die es keine erkennbaren natürlichen Ursachen gibt. So wird der in der Koinzidenz nach Kausalität suchende Intellekt des Menschen durch (Aber-)Glaube beruhigt. Dem können wir nur entgehen, indem wir anerkennen, dass viele Systeme, von denen wir abhängen, chaotisch sind und zu zufälligen Ergebnissen führen, die durch nichts zu beeinflussen sind.