Alkohol ist der Sanitäter in der Not
Eigentlich wollte ich das Thema aus dem Blog raushalten. Eigentlich … aber jetzt schreibe ich schon den zweiten Beitrag dazu.
Das Thema Sucht ist undankbar, keiner geht gerne dran. Fast jeder – auch der Nichtsüchtige – weiß, dass es Glück ist, wenn er nicht an der Flasche hängt, oder dass er hart dafür arbeiten musste. Eine Therapie ist schwierig, Misserfolge und Rückfälle sind häufig. Und eigentlich trinken ja viele viel zu viel. Herbert Grönemeyer hat das in seinem Lied gut beschrieben, gute Beschreibungen habe ich auch in den Büchern von Jack London gefunden.
Also, eigentlich wollte ich das Thema nicht ansprechen. Aber es geht nicht. Dazu ist Alkohol „in der Mitte der Gesellschaft“ zu tief verankert. In Deutschland gibt es nach vorsichtigen Schätzungen eine Million Alkoholabhängige, eine weitere Million ist hochgradig gefährdet. Ich denke, es sind weit mehr.
Eine gefährliche Therapie
Manche Therapeuten sind neuerdings zu der Auffassung gekommen, sie hätten bei der Alkoholtherapie den Stein der Weisen gefunden: der Abhängige brauche auf Alkohol nicht ganz zu verzichten, sondern nur weniger zu trinken. Und wenn er dann wolle, noch weniger, bis er Alkohol nicht mehr brauche.
Wer jemals mit einem Alkoholkranken zu tun hatte, weiß: Das geht nicht! Wenn ein Abhängiger Alkohol trinkt, ist er wieder in dem Teufelskreis drin: trinkt er weniger, kommt es zu Entzugserscheinungen bis hin zum Entzugsdilirium. Und weil er ja ein bisschen trinken darf, wird er jetzt wieder etwas trinken, um dem Elend des Entzugs zu entkommen – die Abwärtsspirale beginnt erneut.
Erfolg kann diese Therapie nur haben bei nicht körperlich Abhängigen – aber das sind keine Alkoholkranken im Sinne des Wortes – und möglicherweise bei Quartalstrinkern, Das sind Alkoholkranke, die zwischen den Abstürzen lange trockene Phasen haben. Auf keinen Fall geht das bei Spiegeltrinkern. Die meisten Alkoholkranke sind Spiegeltrinkern, sie müssen einen bestimmten Alkoholspiegel aufrechterhalten, um überhaupt zu funktionieren. Mindestens für die ist diese neue Therapie tödlich – im wahrsten Sinne des Wortes. Um im Bild zu bleiben: Es gibt zwar einen halbtrockenen Riesling, aber keinen halbtrockenen Alkoholkranken.
Der Alkoholkranke leidet ja gerade daran, dass er nicht in der Lage ist, ohne Kontrollverlust zu trinken. Es kostet ihn unendliche Anstrengung, dann mit dem Trinken aufzuhören, wenn er genug hat. Meist übersteigt diese Anstrengung seine Kräfte.
Kinder leiden
Ein Alkoholkranker darf seinem Suchtdruck nicht nachgeben, wenn er trocken sein und bleiben möchte. Hat er Kinder, wäre das besonders schlimm, denn ein Alkoholkrankes Elternteil lässt deren Urvertrauen sterben. Der süchtige Vater oder die süchtige Mutter nimmt dem Kind die Eltern. Weil für den Alkoholiker, aber auch für seinen Partner, der in den meisten Fällen als Co-Alkoholiker belastet ist, nur noch der Alkohol wichtig ist, wird das Kind unwichtig. Das Kind kann dem süchtigen Elternteil nicht mehr trauen, es macht die Erfahrung, dass sich Vater oder Mutter je nach Promillegrad unterschiedlich verhalten. Es sucht den Grund dafür – und findet ihn in seiner Kinderlogik bei sich selbst. In seiner kindlichen Sorge um die Eltern übernimmt es Verantwortung für das Verhalten des Elternteils, obwohl das völlig unsinnig ist. Das süchtige Verhalten der Erwachsenen erzeugt beim Kind Schäden bis ins Erwachsenenalter. Nach der Logik des Unterbewussten folgen viele Kinder dem Lebensweg derer, die sie so geschädigt haben. Das erwachsene Kind trinkt, damit Vater oder Mutter nicht so viel trinken müssen, es will ihm einen Teil der Sucht abnehmen. Außerdem hat es nie gelernt, mit Stress, Angst und Ärger anders als mit der Betäubung durch Alkohol umzugehen. Alkoholtherapie ist also immer Familientherapie, auch wenn die Familie bei der Therapie nicht dabei ist, denn die Arbeit muss der Alkoholkranke machen.
Heute das erste Glas stehen lassen
Also, ein halber Entzug funktioniert nicht. Der Grundsatz der Anonymen Alkoholiker, heute das erste Glas stehen zu lassen, ist der beste Rat, den ich bisher gehört habe.
Als Alkoholkranker – auch als trockener – sind Sie ein von Ihrer Süchtigkeit Getriebener. Wenn Sie jetzt auch noch langfristige Pläne macht, z. B. „Ich werde nie wieder trinken!“, überfordert Sie sich, denn Sie erhöhen den Druck weiter. Außerdem gibt es da immer noch ein kleines Äffchen auf Ihrer Schulter, das Ihnen zuflüstert: „Das schaffst Du ja doch nicht!“ Denn eine Alkoholikerkarriere ist geprägt von Rückfällen. Wenn Sie dann aber antworten können: „Vielleicht schaffe ich es nicht, aber heute lasse ich das erste Glas stehen. Das schaffe ich!“, haben Sie das Äffchen mundtot gemacht. Sie verhalten sich am besten wie ein Depressiver, der gegen seine Krankheit angeht: Ganz im Hier und Jetzt bleiben. Dann können Sie jedem Tag, der kommt, gelassen ins Auge blicken.
Die eigene Kraft feiern
Trockene Alkoholkranke haben Angst, was sie aufdecken könnten, wenn sie in ihre Seele blicken, und wenn sie ihre familiären Belastungen erforschen. Sie glauben, dadurch aus ihrem sowieso labilen Gleichgewicht gebracht zu werden, so dass die Süchtigkeit wieder zur Sucht wird. Denn gefährdet sind sie ja erwiesenermaßen. Belastungen nicht zu betrachten, ist also ihr Schutzprogramm
Wenn Sie Belastungen nicht betrachten, verhalten Sie sich wie ein Kind, das sich die Augen zuhält, um unsichtbar zu werden. Belastungen durch Gene und Hormone auf der einen Seite und den Einfluss aus Familie und dem Umfeld auf der anderen Seite sind nicht in der Lage sind, Verhaltensweisen zu erzeugen. Sie machen Sie also nicht alkoholkrank, sie machen Sie nur empfänglicher für bestimmte Auslöser. Sie steigern also Ihre Suchtanfälligkeit, verursachen aber nicht Ihre sucht.
Wenn Sie es geschafft haben, trotz der Belastungen und Prädispositionen trocken zu werden, haben Sie eine große Leistung hinter sich. Sie dürfen diese Kraft feiern, im wahrsten Sinne des Wortes! Feiern Sie ein Fest, nach einem Monat, nach einem Vierteljahr, nach einem Jahr! Und Sie dürfen auf Ihre Kraft vertrauen, und Sie dürfen jetzt auf Ihre Kindheit schauen und nach Heilung suchen.
Sagen Sie sich jeden Morgen: „Dieser Tag ist ein geschenkter Tag. Ich werde ihn leben! Er wird nicht vom Alkohol gelebt, sondern von mir selbst, und deshalb bin ich stolz auf mich.“ Es wird nämlich oft vergessen, dass ein Tag ohne Alkohol für Andere eine normale Sache ist, die man nicht erwähnen muss. Für Sie dagegen ist es ein besonderer Tag, und ihn trocken und bewusst zu erleben eine Leistung, auf die Sie ganz besonders stolz sein dürfen.
Emotionale Ehrlichkeit
Seien Sie emotional ehrlich zu sich selbst. Emotionale Unehrlichkeit hat Sie zum Alkohol gebracht, er hat die nicht verstandenen und nicht ausgedrückten – im wahrsten Sinne heruntergeschluckten – Emotionen betäubt und so erträglich gemacht.
Emotionen können angeschaut, erlebt und auch ertragen werden! Nehmen Sie sie wahr und benennen Sie sie ehrlich. Drücken Sie sie aus, zuerst gegenüber sich selbst, später, wenn Ihr Selbstvertrauen gewachsen ist, auch gegenüber anderen. Emotionen dürfen sein, sie sind wichtig für uns, geben uns Antrieb und Kraft. Wir dürfen uns allerdings nicht von ihnen beherrschen lassen.
Unsere emotionale Intelligenz ermöglicht es uns, unsere Emotionen wahrzunehmen, den Grund für sie zu finden, sie angemessen auszudrücken und sie zu beherrschen. Dabei müssen alle Emotionen so behandelt werden, sowohl die positiven, wie Liebe und Freude, als auch die negativen wie Hass und Wut. Denn sie sind Teile von uns. Werden sie unterdrückt, suchen und finden sie einen anderen Weg, hervorzubrechen.
Vergebung
Ja, Sie haben durch Ihrer Trinkerkarriere viel in den Sand gesetzt, vielleicht Ihre Beziehung, oder ihre Karriere, oder das Vertrauen Ihrer Kinder. Sie haben Fehler gemacht, der lang anhaltende Folgen hatten. Aber Sie haben den größten Fehler korrigiert, Sie sind trocken geworden. Also dürfen Sie sich vergeben. Sprechen Sie mit denen, denen Sie geschadet haben und die sie enttäuscht haben, entschuldigen Sie sich bei ihnen. Ihre tätige Reue ist es, trocken zu bleiben.
Pflegen Sie hingegen weiterhin Ihre Scham, geben Sie dem Alkohol auch weiter Macht über ihr eigenes Leben. Viele Alkoholkranke trinken, weil sie nicht mehr in den Spiegel schauen können. Sie schämen sich und wollen sich nur noch verschwommen sehen und ihre bohrenden Schuldgefühle ausschalten.
Während der nassen Zeit und während des Entzugs haben Sie viel über sich gelernt. Viele trockene Alkoholkranke wollen diese Zeiten nicht missen, für sie machen diese Erfahrungen einen wichtigen Teil ihres Wesens aus. Sie schöpfen Kraft aus dem erfolgreichen Entzug. Und sie haben auch andere unangenehme Verhaltensweisen hinter sich gelassen, Verhaltensweisen, die in die Sucht geführt haben.
Vergeben Sie aber auch Ihren Eltern und den anderen Personen Ihres Umfelds. Auch die haben Fehler gemacht, aber vielleicht konnten sie damals nicht anders handeln. Und vergessen Sie nicht, ihr Umfeld hat Sie nur empfänglich für Alkohol gemacht, es hat die Sucht nicht verursacht. Zur Flasche haben Sie gegriffen, es war Ihre Entscheidung. Und deshalb ist es auch allein Ihre Entscheidung, die Flasche wieder wegzustellen. Denn nur der, der etwas anfängt, kann es auch aufhören.
Fazit
Wenn Sie alkoholkrank sind, sich aber vom Alkohol nicht mehr beherrschen lassen wollen, müssen Sie zuerst entgiften und trocken bleiben. Vorher hat es keinen Zweck, therapeutisch tätig zu werden. Eine anschließende Therapie, zumindest eine Begleitung in der ersten Zeit der Trockenheit ist aber unbedingt notwendig. Denn nur so können Sie anderen und vor allem sich selbst vergeben und wieder ohne Schuldgefühle in den Spiegel schauen. Schuldgefühle, Scham und Reue zu pflegen bringen Sie nur wieder an die Flasche. Sie dürfen jetzt stolz auf Ihre Kraft sein.
Ich begleite Sie gerne, therapiere aber keine Sucht – das will, kann und darf ich nicht. Ich weiß, dass Sie vom Alkohol wegkommen wollen – Sie können es aber nicht, sonst wären Sie längst trocken. Sie brauchen also massive Hilfe. Und die kann ich Ihnen nicht bieten. Aber ich kann Sie dabei begleiten, sich selbst und anderen zu vergeben, um Ihrem Leben wieder Sinn und Stabilität zu geben.
PS: Das Gesagte trifft auch auf andere Suchtmittel zu, wie Tabletten, Koks und was es sonst noch auf dem Markt gibt. Es gilt auch für nichtstoffliche Süchte, wie Spielsucht, Arbeitssucht usw.