Beziehungen im Wandel
Ein Paar, nennen wir sie Christine und Martin, findet zusammen, weil sie sich gut verstehen. Sie leben einige Jahre überwiegend friedlich und fröhlich miteinander, alles ist gut.
Und dann plötzlich ändert sich alles. Das heißt, für Martin kommt es plötzlich, Christine hat das Zusammenleben in der Form schon länger nicht mehr gepasst, aber sie hat lange nichts gesagt. Jedenfalls sind sie nicht mehr fröhlich und friedlich, Streit und Kälte halten Einzug. „Wir haben uns auseinandergelebt!“, heißt es dann. Und man trennt sich.
Muss das sein?
Nein, muss es nicht! Schauen wir uns genauer an, was passiert ist. Einer der Partner – in unserem Fall Christine – wollte sich ändern. Nach systemischer Überzeugung ändert sich dann auch die Beziehung. Wenn sich aber die Beziehung ändert, muss sich auch der andere Partner ändern, also Martin, damit das System wieder kompatibel wird. Das aber kann er nicht so schnell. Außerdem sieht er keinen Grund dazu. Er will am alten System festhalten, schließlich hat das ja geklappt. Warum etwas Neues machen? „Never change a running system!“, oder?
Wie kann der Wandel trotzdem kommen? Christine muss verstehen, was bei Martin abläuft, damit sie ihm Zeit und Gelegenheit geben kann, den Wandel zu bewältigen. Zum Verständnis dieses Wandlungsprozesses hilft das topographische Modell des Psychologen Christian Mayer.
Das topographische Modell des Wandels
Es ist kompliziert, die Vorgänge in einem Menschen zu verstehen, der sich wandelt. Deshalb hat Christian Mayer die einzelnen Zustände als Räume beschrieben, die jeder dabei regelmäßig durchschreitet. Mit dieser „topographischen“ Sichtweise kann man meiner Meinung nach das Verhalten des sich ändernden Menschen einfacher verstehen.
Den Zustand, in dem das Paar vor Eintritt der Krise war, könnte man das „gelobte Land“ nennen. Beide waren glücklich, alles war gut. Doch dann ist Christine aufgebrochen und hat damit das gelobte Land, jedenfalls so wie es war, zerstört. Sie hat damit alle anderen Bewohner, vor allem Martin, vertrieben. Das hat sie aber nicht aus Übermut getan. Sie ist aufgebrochen, um ein besseres gelobte Land zu finden, das gelobte Land 2.0. Sie weiß zwar nicht genau, wie es aussieht, trotzdem will sie sich auf den Weg machen.
Martin fällt aus allen Wolken. Er merkt nur, dass das gemeinsame gelobte Land 1.0 kaputt ist, und er gibt natürlich Christine die Schuld. Aus seiner Sicht ist das logisch, nur aus Sicht von Christine hat das gelobte Land 1.0 schon lange nicht mehr zufriedenstellend funktioniert.
Martin hat also seinen Lebensraum verloren, muss aber irgendwo unterkommen. Als Heimatloser bleibt ihm nur ein Provisorium. Dort passt nichts, weder die Möbelstücke, die er aus dem gelobten Land mitgebracht hat, noch sein gewohntes Verhalten. Er fühlt sich wie ein Fisch auf dem Trockenen. Es ist dunkel, er blickt nichts mehr und holt sich überall blaue Flecken. Er flucht und tobt, doch wird es dadurch auch nicht besser. Er will resignieren, aber schließlich findet er einen Rückzugsraum, in dem er erst einmal seine Wunden lecken kann. Um zum Rückzugsraum zu gelangen, muss er alles zurücklassen. Nur so kann er seine Stärken wiederfinden, nur so kann er auch seine Trauer leben.
Trauer beim Wandel
Auch wenn es manchmal nicht so aussieht, ein Mensch im Wandel trauert dem alten Zustand nach. Und das ist durchaus wörtlich zu verstehen. Die Phasen der Trauer, die auch beim Verlust eines geliebten Menschen ablaufen, sind hier durchaus wiedererkennbar.
Trauerarbeit wird nach Verena Kast in sechs Phasen unterteilt:
- Schock
Der Betroffene erfährt die Nachricht, versteht sie aber nicht recht. Er ist wie versteinert. - Nicht-Wahrhaben-Wollen
Der Trauernde fühlt sich empfindungslos, wie in einem bösen Traum. „Es kann nicht sein.“ - Emotionen
Wut, Zorn, Angst, Trauer und andere Emotionen werden gleichzeitig und wild durcheinander erlebt. Der Trauernde sucht nach einem Schuldigen. Fühlt er sich selbst schuldig, kann das bewirken, dass er in diese Phase stehenbleibt. Da Emotionen gesellschaftlich verpönt sind, ist es schwierig, diese Phase zu bewältigen. Das muss aber passieren, um die nächste Phase zu erreichen. - Erinnern
Der Trauernde sucht Orte und Situationen, in denen er mit dem Verstorbenen gemeinsam war. Er muss immer wieder lernen, dass der Verstorbene nicht mehr da ist. Bleibt der Trauernde in dieser Phase stehen, kann er dem Verstorbenen eine Art Pseudoleben geben: Es darf sich nichts ändern, das Zimmer des Verstorbenen muss so bleiben, wie es war. - Akzeptanz
Der Trauernde akzeptiert den Verlust, er kann er zur 6. Phase fortschreiten. - Loslassen
Der Trauernde kommt in sein Leben zurück, er kann neue Beziehungen eingehen und weiß, dass der Verlust ertragen werden kann.
Die ersten drei Phasen durchlebt der Trauernde im Provisorium, die vierte im Rückzugsraum, die fünfte und sechste bei der Realitätsanpassung. Die Trauerarbeit ist sowohl für ihn als auch für seinen Partner wichtig. Martin muss seine Schmerzen und seinen Stress zulassen, anschauen und verarbeiten. Dazu braucht er alle Ressourcen, die er finden kann. Er braucht die Erinnerung an seine Stärke. Er braucht die Zuversicht, die Krise zu bewältigen. Er braucht die Geduld, die Trauer durchzustehen. Wenn Christine mit ihm ins gelobte Land 2.0 gehen möchte, hat auch sie geduldig zu sein. Denn sie befindet sich schon im nächsten Raum, in der Realitätsanpassung. Sie hat ja mit dem Wandel viel früher angefangen. Martin läuft hinterher. Im Rückzugsraum darf er sich endlich eingestehen, dass das gelobte Land 1.0 doch nicht so ideal war, dass es auch für ihn dort Ecken und Kanten, Missverständnisse und Schmerz gab. Es war die Gewohnheit, die ihn das nicht hat erkennen lassen.
Und langsam kann er sich vorstellen, dass es auch für ihn ein gelobtes Land 2.0 gibt. Jetzt, wirklich erst jetzt, kann er weiter zur Realitätsanpassung, in der Christine schon wartet.
Realitätsanpassung
Realitätsanpassung heißt, sowohl die eigene Vorstellung auf den Boden der Realität zurückholen, als auch die Realität so zu ändern (soweit das geht), dass sie zu den eigenen Vorstellungen passt. Das Paar hat die Aufgabe, die jeweils eigenen Vorstellungen und Wünsche mit denen des Partners zu koordinieren. Es wird sich neu kennenlernen, einen neuen Partnerschaftsvertrag schließen. Jeder der beiden definiert sich selbst und seine Wünsche und Ziele neu, wobei auch eine neue Partnerschaft definiert wird. Sie werden also über ihre Partnerschaft nachdenken und sie neu leben. Bei all dem ist es notwendig, dass die Partner wenn möglich nach einem Konsens streben, nicht nach einem Kompromiss. Denn bei einem Kompromiss müssen beide etwas abgeben, bei einem Konsens gewinnen beide.
Zur Realitätsanpassung gehört auch, sich über die Reaktionen Dritter klar zu werden. Es kann sein, dass es Leute gibt, die das neue Paar ablehnen und es zurück in den alten Zustand drängen wollen. Dagegen muss sich das Paar wappnen und den neuen Zustand tapfer auch gegen den Druck enger Angehöriger verteidigen.
Oft sind es die Kinder, die Angst haben und deshalb konservativ sind. Geben Sie ihnen im gelobten Land 2.0 ein Stückchen gelobtes Land 1.0, ein Refugium, das sie kennen. Es muss nur ein kleines Eckchen sein.
Zu neuen Ufern
Nun können beide aufbrechen. Haben sie genügend Liebe und Übereinstimmung für eine gemeinsame Zukunft gefunden, werden sie das Sprungbrett gemeinsam betreten und in das gelobte Land 2.0 springen. Wenn nicht, wird jeder für sich den Resonanzraum suchen, der zu ihm passt. Dann müssen sie sich trennen. Aber das wird, nachdem sie vorher gemeinsam nach einem Konsens gesucht haben, zwar noch schwer sein, aber nicht mehr zu einem Rosenkrieg führen.
Beim Absprung werden sie beide weder wissen, wie sie landen werden, noch, wie das gelobte Land 2.0 genau aussieht. Einige Dinge werden sich anders darstellen, als sie sich es vorgestellt haben. Andere, die sie als Problem gesehen haben, mögen sich aber auch in Wohlgefallen auflösen. All das sind aber Kleinigkeiten im Vergleich zu dem langen Weg, den sie bei der Realitätsanpassung gemeinsam gegangen sind. Dabei hat das Paar gemeinsam Stärke gewonnen.
Fazit
„Das ist viel Arbeit!“, werden Sie sagen, „Viele Tränen und viele Auseinandersetzungen, und dann weiß man immer noch nicht, ob es klappt!“ Und sie haben Recht. Machen Sie sich aber diese Arbeit nicht, werden bei allen Beteiligten Traumata zurückbleiben, deren Bearbeitung noch viel mehr Arbeit, Tränen und Auseinandersetzungen nach sich ziehen. Das können Sie mit diesem Prozess weitestgehend vermeiden, auch dann, wenn er sie nicht wieder zusammenführt.
Haben Sie diesen Weg vor sich, oder stecken Sie mitten drin? Ich helfe ihnen gerne mit meiner über 30-jährigen Ehe-Erfahrung. Ich kann Ihnen jedenfalls versprechen: Die Anstrengung lohnt sich! Andere Männer mussten sich scheiden lassen, um eine neue Frau und eine neue Beziehung zu bekommen, das hatte ich nicht nötig. Meine Frau und ich haben immer, bevor es langweilig wurde, eine neue Beziehung als neues Paar mit ihr als neuer Frau und mir als neuem Mann aufgebaut. Es war spannend, und es wird hoffentlich spannend bleiben.