Briefe an Dich selbst
Der bekannte Hirnforscher Manfred Spitzer hat vor einiger Zeit in einem Vortrag über einen Versuch berichtet, bei dem es um Schreiben und Gefühle ging.
Der Versuch
Man hat einer Gruppe von Menschen die Aufgabe gegeben, an drei aufeinanderfolgenden Tagen über ihre Gefühle beziehungsweise über gefühlsbesetzte Erlebnisse zu schreiben. Dabei ging es durchaus heftig zur Sache, denn es ging um tiefe Gefühle, momentane oder frühere, wie sie bei einer Trennung oder einer Vergewaltigung entstehen.
Natürlich gab es auch eine Kontrollgruppe, das ist bei wissenschaftlichen Versuchen ja immer so. Die Menschen in dieser Gruppe sollten über belanglose, alltägliche Sachen schreiben, wie zum Beispiel „Was habe ich heute erlebt?“, oder „Was koche ich heute Abend?“
Die Wissenschaftler haben dann einige Wochen abgewartet und dann die Versuchsteilnehmer gefragt, wie es ihnen nach dem Schreiben ergangen sei.
Das Ergebnis
Wie erwartet, hatte sich das Leben der zweiten Gruppe nicht geändert, warum sollte es auch. Aber das Ergebnis der ersten Gruppe, also die, die über ihre Gefühle geschrieben hatte, war verblüffend. Es ging ihnen allgemein besser als vorher. Sie waren gesünder, hatten weniger Krankheitstage, waren seltener beim Arzt und hatten Fortschritte in der Schule, beim Studium oder im Beruf gemacht. Als man daraufhin ihr Immunsystem untersuchte, erwies es sich als deutlich besser funktionierend als das der Mitglieder der Kontrollgruppe.
Kann das jeder?
Klar, das kannst Du auch. Setz Dich einfach drei Tage hintereinander – oder, wenn Du möchtest, auch länger – für 15 bis maximal 30 Minuten hin und schreibe über Deine Gefühle. Bist Du wütend? Hast Du Angst? Bist Du glücklich? Oder traurig? Oder gibt es Erlebnisse aus der Vergangenheit, die Dir gefühlsmäßig nachgehen? Oder schreibe über den Tod, oder die Liebe oder über irgendetwas, über das Du lange nicht mehr nachgedacht hast.
Nach meiner Erfahrung ist es am besten, mit der Hand zu schreiben, denn eine Tastatur schafft für die meisten zu viel Distanz. Du kannst außerdem leichter unterstreichen oder Pfeile zeichnen, die zwei Dinge miteinander verbinden. Da das Ergebnis nur für Dich ist, muss niemand anderer es lesen können. Also ist es nicht schlimm, wenn Du eine „Sauklaue“ hast, Du selbst wirst sie lesen können. Und wenn nicht, ist das auch nicht schlimm, wichtig ist der Prozess des Schreibens. Schreibfehler oder Zeichenfehler sind egal, die werden nicht korrigiert, auch stilistische Unzulänglichkeiten interessieren niemanden.
Das Schreiben selbst ist wichtig. Schreib, was Dir in den Kopf kommt und wie es Dir einfällt. Der Vorteil des Schreibens gegenüber dem Reden mit jemand anderem ist, dass Du nur das schreiben wirst, was Du auch ertragen kannst, was zu heftig wird, wird automatisch weggelassen. Keiner stellt bohrende Fragen und triggert Dich, niemand lenkt Dich von Deinem Gedankengang ab. Auch ist das Schreiben ein langsamer Vorgang, der Dir Zeit zum Nachdenken lässt. Keiner drängt Dich. Mit dem Geschriebenen hast Du außerdem etwas in der Hand, es ist weniger flüchtig als Gesagtes.
Wenn Du Abstand von einem Gefühl brauchst, weil es zu verletzend ist oder zu sehr schmerzt, kannst Du einen Trick anwenden, der Distanz schafft. Schreibe zum Beispiel nicht: „Ich habe Angst“, sondern „Es ist ängstlich“, oder eine ähnliche Formulierung. Damit ist klar, dass nicht Du als ganze Person nur noch aus Angst bestehst, sondern dass es nur ein Teil von Dir ist, der mit Angst zu tun hat. Natürlich solltest Du Dir dann auch noch darüber klar werden, was ängstigt, welcher Teil von Dir, warum, wie die Angst wirkt und ob sie ganz konkret hier und jetzt berechtigt ist. Vielleicht erkennst Du auch, ob es einen anderen Teil von Dir gibt, der den ängstlichen schützen oder einsperren möchte.
Alles, was Du schreibst, muss nicht objektiv „richtig“ und „wahr“ sein. Du schreibst über Deine augenblicklichen oder damaligen Gefühle, und die sind richtig und wahr, denn Du empfindest sie so. Ausnahmsweise darfst Du Dich hier so ausdrücken, wie Du es willst, wie Du Dich fühlst. Nimm auf niemanden Rücksicht, nicht auf Deinen Partner, der Dich dann möglicherweise nicht mehr lieben könnte und nicht auf Deine Mutter, die sich dann vielleicht Sorgen macht. Du bist die Hauptperson und Du darfst endlich das schreiben, über das Du lange geschwiegen hast.
Meine eigene Erfahrung
Ich kenne den Versuch und das Verfahren, über das Herr Spitzer gesprochen hat, auch erst seit einiger Zeit. Aber ich habe Ähnliches schon lange vorher gemacht. Ich habe Blogs geschrieben, über Dinge, die mich bewegt haben und an denen ich gefühlsmäßig beteiligt war. Dummerweise fehlt mir aber die Kontrollgruppe, deshalb kann ich nicht beweisen, dass mir das Schreiben geholfen hat. Aber ich vermute es, und als ich meine Frau gefragt habe, hat sie es mir bestätigt.
Briefe an Deine Liebe
Wenn Du verliebt bist oder jemanden liebst, mache einmal einen ähnlichen Versuch: schreibe über Deine Beziehung, schreibe, was gut an ihr ist. Ich glaube fest, dass Du anschließend Deinem Partner liebe- und gefühlvoller entgegentreten wirst. Und Dein Partner, obwohl er von Deinem Versuch nichts weiß, wird Dir auch liebevoller begegnen, da bin ich mir als systemisch Denkender absolut sicher.
Fazit
„Es gibt nichts Gutes, es sei denn, man tut es!“ Mach also mal den Versuch, über Deine Gefühle zu schreiben. Es kostet Dich am Tag nur ein paar Minuten, gerade so lange, wie die Nachrichten dauern. Auf die kann wirklich mal ein paar Tage verzichtet werden. Und wenn Du Fragen hast, darfst Du mich gerne kontaktieren.