Callahan´s Saloon
Glauben Sie an Zufälle?
Ich selbst bin mir nicht sicher, manche Ereignisse kommen mir als Zufall, andere als Fügung vor. So auch, dass ich gestern ein Buch aus den übriggebliebenen Resten meiner Sammlung von Science-Fiction-Literatur herausgefischt und in einem Zug gelesen habe, ein Kurzgeschichten-Sammelband*. Wie bei allen guten SF-Geschichten dreht es sich dabei nicht um Weltraumflüge und Sternenkriege, sondern um Menschen. Außerirdische und Zeitreisende gibt es zwar auch, aber eigentlich nur, um den Blick von außen auf Menschen zu ermöglichen – sie spielen nicht die Hauptrolle, sondern sind eher Spiegel, die unser Bild gnadenlos zurückwerfen. Und manchmal zeigen sie, dass Außerirdische auch nur Menschen sind.
Ich war aus Prinzip schon seit einer Ewigkeit nicht mehr in einer Kneipe. Aber Callahan’s Saloon würde ich ohne zu zögern und sofort besuchen. Ich bin sicher, Callahan würde mir in die Augen schauen und mir dann keinen Alkohol einschenken, sondern z.B. ein Glas Apfelsaft – und jeder seiner Gäste würde das völlig OK finden. Keiner würde versuchen, mich zu einem Glas Whiskey oder Bier zu überreden, denn zumindest die Stammgäste leben nach dem Motto: „Jedem Tierchen sein Pläsierchen!“
Der Autor lässt seine Gäste nämlich so handeln, als wären sie alle in systemischer und lösungsfokussierter Gesprächsführung ausgebildet – obwohl das 1977 noch überhaupt nicht en vogue war. Denn Callahan und sein Klavierspieler machen allen neuen Gästen unmissverständlich klar, wie sie sich zu benehmen haben. Kommt jemand in diese Kneipe und will nichts erzählen, dann darf er schweigen, und keiner nimmt ihm das krumm. Und wenn er erzählen will, dann hört ihm jeder zu, der Lust dazu hat – ohne ihm Ratschläge zu geben und ohne ihn zu be- oder gar verurteilen. Und diese Regeln gelten für alle, auch für Außerirdische und Zeitreisende und sogar für die hübsche, aber todunglückliche 200-jährige Rachel.
Callahan sammelt Gäste, die Probleme haben, mit denen sie nicht fertig geworden sind. Sie kommen in seinen Saloon, weil ein Bekannter denkt, dass sie ihn nötig haben und ihnen das Lokal empfohlen hat. Und dann, wenn sie bereit sind zu reden, hört ihnen jeder zu. Und weil die Gäste selbst ihr Päckchen zu tragen haben und wissen, wie das Leben einem Menschen mitspielen kann, beurteilen sie kein Verhalten, so abwegig es einem auch erst einmal vorkommen kann. Sie wissen, dass kein Mensch mutwillig Dummheiten gemacht hat, sondern dass er so gehandelt hat, weil das ihm damals als das Beste erschienen ist, weil er geglaubt hat, gar keine andere Möglichkeit zu haben. Und sie respektieren und lieben ihn dafür, auch wenn sie es nicht zeigen.
Kennt jemand eine solche Kneipe? Wie gesagt, ich würde sie sofort besuchen. Also, wer so eine kennt, bitte sofort bei mir melden. Solche Institutionen machen Psychotherapien überflüssig. Ich habe allerdings bisher noch keine gefunden. Aber ich versuche, meine Klienten so zu behandeln, wie die Gäste in Callahan’s Saloon ihre unglücklichen Leidensgenossen. Sehr oft gelingt es mir. Also, wenn Sie Callahan’s Saloon bisher nicht gefunden haben, kommen Sie zu mir, ich werde Sie gern begleiten, vorurteilsfrei und ohne Ihre Probleme mit Ratschlägen zuzudecken. Denn ich weiß, eigentlich kennen Sie ja die Lösung ihres Problems, sie haben sie nur vergessen, und ich begleite Sie, bis Sie sich erinnern.
* Spider Robinson: „Die Zeitreisenden in >>Callahan’s Saloon<<“ Heyne 1977