Coachs mit kurzen Haaren?
In meiner Jugend, den 60’ern und 70’ern, waren lange Haare, oder das was damals als lang bezeichnet wurde, für junge Männer fast verbindlich. Sie zeigten damit, dass sie gegen das Establishment waren, irgendwie links, Frauenversteher und sowieso coole Säue. Und außerdem standen die Mädels drauf. Lang für junge Männer war also Pflicht.
Heute gibt es kaum noch Männer mit langen Haaren, außer in drei Berufsgruppen, und da scheinen sie Pflicht zu sein: Künstler (struppig), Esoteriker (lang und wallend) und männliche Coaches (etwas kürzer und gepflegt). Wobei, bei Coaches muss man unterscheiden: Business-Coaches haben kurze Haare, tragen Schlips und Anzug. Aber Live- oder Personal Coaches tragen die Haare lang. Muss ich also als Angehöriger dieser letzten Berufsgruppe eine Coachita sein, oder ist das Wurst?
Wie war das ganz früher?
Im Mittelalter und davor waren lange Haare das Zeichen eines freien Mannes. Wurde er versklavt oder unfrei, wurden seine Haare geschoren. Lange Haare waren sogar ein Zeichen männlicher Kraft. Erst als Delila Samson die Haare abgeschnitten hatte, war er besiegbar. Kurze Haare für Männer kamen erst in der industriellen Revolution in Mode, als Männer vor allem ihre Arbeitsfähigkeit beweisen mussten – lange Haare sind in einer industriellen Umgebung gefährlich – und ihre Bereitschaft, sich der betrieblichen Hierarchie unterzuordnen.
Was sagen lange Haare
Um zu entscheiden, was lange Haare bedeuten, sollten wir erst einmal klären, was man(n) heute mit langen Haaren aussagt und was beim Gegenüber ankommt. Klar ist, dass lange Haare heute vor allem mit Weiblichkeit verbunden werden, aber was sagen sie sonst noch aus?
Lange Haare sind heute kein Protest mehr. Die „68’er“ haben damals mit ihren langen Haaren angeblich den Untergang des Abendlandes hervorgerufen („Gammler!“, „Arbeitsscheue!“, „Ab ins Arbeitslager!“). Diese ehemaligen Protestler sind fast ausgestorben oder haben beim Marsch durch die Institutionen die langen Haare verloren. Und ähnliche Revoluzzer sind nicht nachgewachsen, die Jugend ist heute eher angepasst. Also, Protest fällt als Aussage aus, lange Haare werden heute nicht mehr so verstanden.
Nächster Punkt: Die Frauen stehen auf lang behaarte Männer. Das stimmt heute auch nicht mehr, viele Frauen wollen oft Männer, die eher männlich aussehen, also kurze Haare haben. Sie selbst betonen eher ihre Weiblichkeit mit langen Haaren. Ich weiß, es gibt auch andere, aber die sind relativ selten geworden. Und als Mann mit langen Haaren auf coole Sau zu machen, tut es auch nicht mehr.
Lange Haare speziell bei Coaches
Ich vermute, Personal Coachs wollen etwas anderes mit ihren langen Haaren aussagen. Sie wollen ihre Männlichkeit sozusagen „entschärfen“, wollen sagen, dass sie ihre weibliche Seite entdeckt haben und pflegen. Sie wollen zeigen, dass sie empfindsam sind und somit ein Ansprechpartner für Frauen sind. Denn ihre Zielgruppe sind meist Frauen. Die Business-Coaches, deren Zielgruppe ja vor allem Männer sind, tragen wie gesagt kurze Haare.
Eine andere Berufsgruppe hat das früher auch jahrhundertelang gemacht: Priester haben oft Frauenkleidung getragen. Katholischen Priester zum Beispiel Soutanen, die Frauenkleidern recht ähnlich sind. Es gab sogar Priester, die sich, wie die Priester des Isis-Mysterienkults, zu Ehren ihrer weiblichen Gottheit kastrieren lassen haben. Lachen Sie nicht darüber, so fern ist uns das nicht: Katholische Priester sind aufgrund ihres Zölibats sozial kastriert.
Zurück zum Coaching: Es ist einfacher, einen Rapport (eine vertrauensvolle Empathie) zu einem Klienten herzustellen, wenn man ihm möglichst ähnlich ist. Aber vom Rapport allein lebt kein Coaching, denn es ist harte Arbeit, für den Coach und den Klienten. Manchmal muss man als Coach das austeilen, was ich einen „liebevollen Arschtritt“ nenne, einen Schubs, der den Klienten sein gewohntes Denken verlassen lässt, eine Frage, die ihn an seinem bisherigen Vorgehen zweifeln lässt.
Esoterisch angehauchte Coaches wollen mit ihren langen Haaren wohl auch darauf hinweisen, dass sie nicht ganz von dieser Welt sind und sich um ihr äußeres Erscheinungsbild keine Gedanken machen. Sie sind zu sehr mit Seelen beschäftigt, um sich um so etwas Profanes wie einen Friseur-Termin kümmern zu können. Außerdem sind ihre Haare „Antennen zur oberen Welt“ und sie haben Angst, dass ohne diese eine für ihren Beruf wichtige Verbindung abreißt.
Und ich?
Ich habe kurze Haare, von der Revoluzzer-Zeit (die ich übrigens auch mit kurzen Haaren durchlebt habe) ist nur der Bart geblieben, und der betont ja sogar noch meine Männlichkeit. Bin ich deshalb weniger empfindsam und kann mich in Frauen weniger einfühlen? Kann ich keinen Rapport zu Klientinnen herstellen?
Ich denke nicht, und auch meine Klientinnen sind nicht dieser Meinung. Allerdings stehe ich mit beiden Beinen auf dem Boden, Esoterik spricht mich nicht an. Auch wenn sich deshalb die eine oder andere Klientin aufgrund meines Aussehens nicht für mich entscheiden kann, ich bleibe bei meinen kurzen Haaren – bis dass der Haarausfall uns scheidet.
(Eine Bemerkung der Lektorin: Ich finde Rolands kurze Haare gut, so habe ich meinen persönlichen George Clooney! Karin Scherer)