Das vulnerabel-narzisstische Schneewittchen
Nur noch einmal zur Erinnerung: Narzissmus ist eine Störung des Selbstwertgefühls. Man nennt einen grandiosen Narzissten, der sich allen anderen überlegen fühlt, und einen vulnerablen, der sich unterlegen fühlt. Beide sind aber nur zwei Seiten einer Medaille. Nun aber zur Geschichte:
Ich möchte Dir eine Geschichte erzähle, eine Metapher. Sie stammt aus einem Märchen, das du bestimmt kennst, nämlich aus „Schneewittchen“.
In dem Märchen kommt eine Königin vor, die ganz am Anfang sagt:
„Ach hätte ich doch ein Kind,
so weiß wie Schnee,
so rot wie Blut, und
so schwarz wie Ebenholz!“
Das Kind ist noch nicht einmal gezeugt, aber sein Bild steht schon fest. Und dann wird das Kind gezeugt und geboren und es ist —
grün und gelb.
Und als das Kind aufwächst, erzählt ihm die Königin, dass grün-gelb gar nicht gehe, es müsse weiß, rot und schwarz sein. Und das Kind will ihr gefallen und packt sein Grün-Gelb weg, versteckt es tief unten und wird weiß-rot-schwarz. Es bemüht sich von da an um das das weißeste Weiß, das roteste Rot und das schwärzeste Schwarz und wird von der Königin deshalb sehr geliebt.
Und als viel später jemand Anderes kommt und es auch lieben will, da hat das Kind furchtbare Angst, dass die Andere sein Grün-Gelb sehen könnte und es dann nicht mag. Dabei wünschte sich nichts mehr, als dass jemand kommt und sagt: „Gerade dein Grün-Gelb finde ich so toll!“, und es um seiner selbst willen liebt. Es glaubt aber nicht, dass das geht, denn es ist nie auf diese Art geliebt worden, sondern immer nur wegen seines Weiß-Rot-Schwarz. Deshalb kann es nicht anders sein. So versteckt es fleißig sein eigenes Grün-Gelb und tarnt sich mit dem fremden Weiß-Rot-Schwarz.
Und wenn der Andere dem Kind so nah kommt, dass sie sein Grün-Gelb ahnen könnte, flüchtet es in die Dunkelheit, denn dort spielen die Farben, die es hat oder nicht hat oder vortäuscht zu haben, keine Rolle. Doch die Andere möchte das Kind sehen, wie es ist, aber das hat ja so schreckliche Angst und versteckt sich noch tiefer im Dunkeln. Und aus dem Dunkel schreit es den Anderen an: „Du bist schuld, dass ich ins Dunkel fliehen muss!“ Und es hat recht, dann wäre der Andere nicht, müsste es sein Grün-Gelb nicht im Dunkel verstecken. Und es hat auch Unrecht, denn es war die Königin, die dem Kind beigebracht hat, sein Grün-Gelb zu verstecken, durch ihre Bestechung mit falscher Liebe.
Und wenn es dann aus dem Dunkel wieder hervorkommt, hat es – so dick wie nie zuvor – Weiß, Rot und Schwarz aufgetragen. Und es hasst sich dafür, aber es weiß es nicht besser. Und das Kind wird nie wissen, warum es sich hasst, denn es weiß nichts von dem Anfang des Märchens. Du aber, Du kannst es anders machen, denn Du kennst jetzt den Anfang, Du kannst nun das Weiß, das Rot und das Schwarz abschminken und das Grün-Gelb im hellen Sonnenlicht leuchten und funkeln lassen. Das Dunkel brauchst Du nicht mehr, denn es werden Dich viele gerade wegen Deines Grün-Gelbs lieben.
Angeregt durch einen Vortrag der Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki