Die Erde ist eine Scheibe
Zumindest könnte man zu dieser Ansicht kommen, wenn man US-Amerikanische Internetseiten betrachtet. Es gibt so viele tatsächlich ernst gemeinte Artikel, die diese Meinung vertreten und zu beweisen versuchen. Sucht man weiter, findet man, dass die Schwerkraft von Wissenschaftlern erfunden wurde, um deren Lüge, die Erde sei eine Kugel, plausibel zu machen. Man findet natürlich auch, dass alle Lebewesen erschaffen wurden und Evolution eine Lüge sei. Und dass das ganze Weltall mitsamt der Erde nur 6.000 Jahre alt sei. Weiterhin würden Wissenschaftler die Welt nur deshalb so kompliziert erklären, damit sie kein normaler Mensch verstehen kann und sie so ihre Verschwörungen besser tarnen können.
Das alles glauben tatsächlich mindestens 40 % der US-Amerikaner. Weil sich ihr „gesunder Menschenverstand“ eine Entwicklung, die Milliarden von Jahren dauert und eine Kugel mit einem Umfang von ca. 40.000 km – pardon, das heißt natürlich knapp 25.000 Meilen – unvorstellbar ist, schaffen sie sich ihre eigene, einfache Wirklichkeit.
Die Wahrheit ist komplex
Nun ist die objektive Wirklichkeit, die die Wissenschaft zu ergründen versucht, so kompliziert und komplex, dass sie kein Mensch wirklich ganz begreifen kann. Das zeigt uns, dass der menschliche Verstand begrenzt ist. Er entwickelte sich, um dem Menschen zu ermöglichen, sich zu ernähren, sich vor Gefahren zu schützen und mit anderen Menschen zusammenleben zu können. Dem stimmt wohl jeder zu, außer natürlich Menschen mit einer narzisstischen Störung. Diese Form des Narzissmus, die Form also, die die eigene Begrenztheit verneint, hat ihre Ursache in gesteigerter Angst, Nervosität, Anspannung, kurz in der Unsicherheit ihrer Träger. Diese Eigenschaften werden von der Psychologie als Neurotizismus bezeichnet. Dass die amerikanische Gesellschaft hochgradig neurotisch ist, bemerkt man an ihrer Besessenheit von Waffen, Kriegshelden – aber nur wenn sie gewonnen haben – und Law & Order, also Gesetz und Befehl – nicht Recht und Ordnung, das wird immer wieder falsch übersetzt. Dummerweise ist der letzte Krieg, den die USA wirklich gewonnen haben, schon über 60 Jahre her.
Die narzisstische Kränkung
Menschen mit einer narzisstischen Störung empfinden es als eine Kränkung, wenn sich zeigt, dass ihr empfundenes Selbstwertgefühl nicht den Tatsachen entspricht. Diese narzisstische Kränkung führt zu Frustration, Wut und dem Bedürfnis, den Verursacher dieser Kränkung abzuwerten. Nun reden Forscher über Dinge, die dem Nichtforscher nicht ohne weiteres verständlich sind. Die Abwertung der Forscher passiert in Amerika, indem diese als überflüssige Eierköpfe abgewertet werden, als Leute, denen man nicht trauen darf, weil sie eine Verschwörung angezettelt haben, die die Wirklichkeit verzerrt und unverständlich machen. Der Nichtwissenschaftler bemerkt diese angebliche Verschwörung aber aufgrund seines „gesunden Menschenverstandes“, dazu braucht er laut eigener Überzeugung keine akademische Bildung. Nein, er weiß, die Erde ist nicht rund, sonst müssten ja Flugzeuge, die nach Australien fliegen, irgendwann zwischendurch in den Rückenflug übergehen, denn die durch die Erde ausgeübte Schwerkraft ist ja eine Lüge.
Warum nehmen diese Verschwörungstheoretiker zu?
Noch vor dreißig Jahren gab es nur ganz wenige Menschen, die an wissenschaftliche Verschwörungstheorien glaubten. Warum werden es nun immer mehr, während die Wissenschaft ständig fortschreitet? Diese Leute können eine Wissenschaft, die aufgrund neuer Erkenntnisse Dinge, die gestern noch wahr waren, heute verwirft, nicht akzeptieren. Sie wollen „Ewige Wahrheiten“, denn sie sehnen sich nach Sicherheit und emotionaler Geborgenheit. Sie reagieren deshalb verstört darauf, wenn ihnen jemand die Welt nicht so erklären kann, dass Sie es sofort begreifen. Sie wenden sich dann einfachen Erklärungen zu. Das sind solche, die auch schon bronzezeitliche Hirten auf ihrem Weg von Ägypten ins Gelobte Land verstanden und in einem Buch zusammengefasst haben, dass dann als heilig erklärt wurde.
Und bei uns?
Wir brauchen gar nicht so hochnäsig auf die „Amis“ herunterblicken, auch bei uns gibt es entsprechende Menschen. Es sind zwar nicht so viele, und sie glauben nicht an die „Flache Erde“. Aber sie verstehen das gesellschaftliche Zusammenspiel nicht mehr, das ist ihnen zu kompliziert geworden. Und wie die Amerikaner sind sie deshalb narzisstisch gekränkt und verhalten sich so wie diese. Sie machen diese Kränkung erträglicher, indem sie „Wutbürger“ werden, „Lügenpresse“ brüllen und Verschwörungstheorien der „Reichsbürger“ folgen. Sie sind auch für Simplifizierungen anfällig, die besagen, dass „die Immigranten“ oder „die Juden“ an allem Übel ihrer kleinen Welt schuld seien. Die AfD lässt grüßen!
Narzissmus in Deutschland?
Wir haben gelernt, dass die narzisstische Kränkung nur beim Vorliegen einer narzisstischen Störung zum Beleidigtsein und zu Hass führt. Woher kommt nun dieser Narzissmus? Neurotizismus ist in Deutschland nicht so häufig vertreten wie in den USA.
Wenn wir uns anschauen, wo diese Bewegungen salonfähig wurden und sind, müssen wir in die neuen Bundesländer blicken. Klar, auch in den alten Bundesländern gibt es inzwischen AfD-Anhänger, aber die führenden Köpfe kommen auch im Westen oft aus der ehemaligen DDR. Was mir aufgefallen ist, ist, dass es in der DDR viele Ganztagskrippen für Kinder gab, ja sogar Krippen, in denen die Kinder schon im frühsten Alter die ganze Woche verbrachten. In der Familie waren sie nur am Wochenende. Diese ständig wechselnden Bezugspersonen schon als Kleinkind führten dazu, dass diese als Kinder und als Erwachsene wenig bindungs- und beziehungsfähig wurden, ihnen fehlte die Sicherheit elterlicher Kontakte. Diese fehlende Sicherheit führt nach Meinung der meisten Kinderpsychologen im Erwachsenenalter zu einem schwachen Selbstwertgefühl, einer mangelnden Emotionalität und somit zu einer narzisstischen Störung.
Was tun?
Es hilft nur Aufklärung. Die oben beschriebenen Menschen sind deshalb so laut, weil sie sich hilflos fühlen. Ihre Wut hat keine Adresse, und so schafft sie sich eine: alle Menschen, die nicht ihrer Meinung sind. Wir, die wir für Verschwörungstheorien weniger anfällig sein wollen, dürfen uns von Geschrei nicht verängstigen lassen. Klar, auch wir kennen „die“ Lösung nicht, aber wir geben auch nicht vor, sie zu kennen. Wir ertragen die Unsicherheit, weil wir wissen, dass der Mensch Irrtümern unterliegt. Aber wir bemühen uns, Irrtümer zu korrigieren und lassen deshalb Korrekturen und vor allem andere Meinungen zu. Wir verschließen uns nicht ehrlichen Argumenten, aber wir lehnen Lehren entschieden ab, die Veränderungen unmöglich machen. Deshalb: