Erinnerungen sind flexibel
Erinnern ist kein passives Auslesen von gespeicherten Tatsachen, es ist ein aktiver Vorgang, bei dem Erlebtes rekonstruiert wird. Diese Rekonstruktion ist kontextabhängig, sie ist also von Situation zu Situation und von Mensch zu Mensch verschieden.
Wenn sich also zwei Menschen an das gleiche Ereignis unterschiedlich erinnern, lügt nicht einer der beiden. Beide rekonstruieren das Ereignis verschieden, denn sie haben tatsächlich durch unterschiedliche Prägungen und Stimmungen etwas anderes erlebt und erinnern sich auch je nach jetzigem Kontext an etwas anderes. Die Rekonstruktion der Wirklichkeit aus dem Gedächnis ist also fehleranfällig, die „wirklich wahre Wirklichkeit“ gibt es nicht, jedenfalls nicht, wenn Menschen sich erinnern.
Wie arbeitet unser Gedächtnis?
So ganz genau weiß niemand, wie wir uns Dinge merken. Die folgende Beschreibung scheint sich aber in der Wissenschaft immer mehr durchzusetzen. Unser Gehirn merkt sich Erinnerungen platzsparend. Wenn wir oft einen bestimmten Gegenstand gesehen haben, und sehen jetzt einen sehr ähnlichen, kann es sein, dass die Rekonstruktionsvorschrift der Erinnerung die Gegenstände verwechselt und nun auf denjenigen zeigt, den wir schon oft gesehen haben und nicht auf den, der aktuell mit der Erinnerung zu verbinden wäre. So finden wir ein grünes Schlüsselmäppchen nicht, weil wir überzeugt sind, es sei braun – unser eigenes ist schließlich auch braun.
Es kann weiterhin sein, dass diese Rekonstruktionsvorschriften unvollständig sind. Dann ergänzen wir sie zu einer vollständigen Geschichte, die uns logisch erscheint und die wir – auch uns selbst – logisch schildern können. Obwohl die „dazugedichteten“ Einzelheiten vom Kontext abhängen und deshalb variabel sind, halten wir auch sie für einen Teil der Erinnerung. Erinnerungen können sich also durchaus zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedlich darstellen. Erfahrene Polizisten kennen das aus Schilderungen von auch unbeteiligten Zeugen zu Unfallhergängen.
Wird eine Szene oft erlebt, brennt sich die zugehörige Rekonstruktionsvorschrift immer tiefer und mit allen Einzelheiten in unser Gedächtnis ein, der Erinnerungsvorgang wird also immer weniger fehleranfällig. Wir merken das am besten bei unserem Körpergedächtnis: Haben wir das Fahrradfahren oft genug geübt, erinnert sich unser Körper fast fehlerfrei an die dazu notwendigen Bewegungsabläufe. Wir „können“ Fahrradfahren.
Das Episodengedächtnis
Das Episodengedächtnis speichert die Gesamtheit aller von einem Ereignis hervorgerufenen Sinneseindrücke rekonstruierbar ab. Wir erinnern uns also bei einem so abgespeicherten Erlebnis zum Beispiel auch, welchen Duft wir dabei in der Nase hatten, und welche Musik im Hintergrund gespielt wurde, obwohl diese Einzelheiten für das Verstehen der Szene keine Rolle spielte. Wir merken uns aber die gesamte Episode. Nun kann es passieren, dass wir uns an diese Episode erinnern, wenn wir den gleichen Duft riechen. So erinnern wir uns vielleicht an unsere Turnstunde in der Schule, weil wir den dumpfen Geruch nach Schweiß und getragenen Socken riechen. Oder wir erinnern uns an das Treffen mit unserer ersten Liebe, weil wir ein bestimmtes Musikstück hören.
Das semantische Gedächtnis
Es wird auch von einem semantischen Gedächtnis gesprochen, bei dem man sich nur einen einzigen Sinneseindruck merkt. Allerdings bezweifele ich, dass das wirklich so funktioniert, ob also einzelne Sinneseindrücke wirklich ohne die anderen wahrgenommen werden. Auch wenn man sich zum Beispiel nur an eine Telefonnummer erinnert, kann man durch Hypnose und ähnliche Techniken die Situation ins Gedächtnis in allen Einzelheiten zurückrufen, in der man diese erlernt hat.
Traumatische Erinnerungen
Durch traumatisch erlebte Vorgänge kann die Rekonstruktionsvorschrift der Erinnerung verlorengehen, so dass es zu einer Gedächtnis-Dissoziation kommt. Man erinnert sich dann nicht mehr an die Szene, höchstens an unzusammenhängende Einzelheiten, die aber äußerst belastend wirken können, ohne dass die traumatisierte Person weiß, warum. Kommt es dann zu einem Flashback, wird das gesamte Erlebnis zurückgerufen, sogar so, als würde man es gerade aufs Neue erleben. Die Erinnerung wird nicht mehr als Erinnerung erkannt, sondern als ein wiederholtes Erleben der traumatischen Vorgänge. Der Schrecken oder die Angst, die das Trauma ausgelöst hat, ist also bei jedem Flashback präsent, was ein Heilen des Traumas schwierig macht.
„Verlorene“ Erinnerungen
Es scheint so zu sein, dass wir uns grundsätzlich alles merken, was wir erlebt haben. Wir können uns allerdings nicht an alles erinnern. Warum?
Es gibt eine sehr seltene neurologische Störung, bei denen die Betroffenen sich wirklich an alles erinnern können, in allen Einzelheiten, was sie jemals erlebt haben (Hyperthymestisches Syndrom). Die Kapazität unseres Gedächtnisses reicht also dafür aus, unser Langzeitgedächtnis hat eine riesige Kapazität. Wir müssen keine alten Erinnerungen löschen, um für neuen Platz zu schaffen. Unser Gedächtnis unterscheidet sich also insofern von einer Festplatte im Computer.
Warum vergessen wir aber in den meisten Fällen Dinge? Es sieht so aus, dass wir uns zwar an alles erinnern können, dass aber der Index, also sozusagen das Inhaltsverzeichnis unserer Erinnerungen, begrenzt ist oder sich begrenzt. Unter Hypnose können wir uns nämlich an Vergessenes erinnern, und oft erinnern wir uns auch an Vergessenes, wenn wir den damit verknüpften Geruch riechen, plötzlich ist dann die Erinnerung wieder da. Gerade olfaktorische Rezeptoren scheinen einen direkten Weg in unser Gedächtnis zu haben und dieses mit unseren Gefühlen zu verbinden.
Und was sagt uns das?
Gerade die Tatsache, dass unsere Erinnerungen an den Kontext gebunden sind, der sich je nach Situation ändert, spielt in der Psychologie eine wichtige Rolle. Nur so ist der Satz des Psychotherapeuten Ben Furman zu verstehen: „Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben.“ Denn die Vergangenheit prägt nicht unsere Gegenwart, es sind nur die im Augenblick erlebten Erinnerungen an unsere Vergangenheit, und die sind vom Kontext abhängig. Die Vergangenheit spielt zwar unter Umständen eine wichtige Rolle, aber sie ist nicht prägend. Wie der Psychotherapeut Gunther Schmidt sagt, sind wir niemals die Opfer unserer Vergangenheit, sondern nur die unserer Erinnerungen an sie.