Erlebte und erinnerte Vergangenheit
Die Vergangenheit ist vergangen, sie ist vorbei. Du kannst sie nicht mehr ändern, und das ist gut so. Denn sonst könnte das bekannte Großvaterparadoxon auftreten: Du könntest dafür sorgen, dass dein Großvater deine Großmutter nicht kennenlernt, deshalb würde dein Vater oder deine Mutter nicht geboren, und damit du auch nicht. Da du aber nicht geboren wurdest, hättest du nicht dafür sorgen können, dass dein Großvater deine Großmutter nicht kennenlernt. Also würdest du geboren…
Trotzdem scheint eine Form der Vergangenheit nicht ganz unveränderbar zu sein: Die erinnerte Vergangenheit kann sich jederzeit ändern. Wir verwechseln oft die erinnerte mit der erlebten Vergangenheit. Die erlebte Vergangenheit ist das, was wir in dem Augenblick, als das Phänomen passierte, erlebt haben. Aber auch das muss nicht unbedingt etwas mit der Realität zu tun haben. Fragen Sie einmal zwei verschiedene Zeugen eines Ereignisses zeitnah, was passiert ist. Sie werden nur im Ausnahmefall zwei gleiche Beschreibungen erhalten.
Phänomene
Nennen wir ein Ereignis, also etwas, was erlebt werden kann, der Einfachheit halber ein Phänomen. Dann gibt es (mindestens) drei verschiedene Arten von Phänomenen:
- Das objektive Phänomen oder die Realität
Diese ist schwierig zu definieren, da dazu ein objektiver Beobachter notwendig wäre, der ungetrübt jeder subjektiver Einflüsse das Ereignis schildern könnte. Am ehesten ist so eine Beschreibung möglich bei Phänomenen, die sich vollständig durch eine Messung beschreiben lassen, wobei auch hier Subjektivität eine Rolle spielen kann. Wenn ich ein Kilo Kartoffeln kaufe, reicht mir eine Genauigkeit auf ein paar Gramm, die die Waage auf dem Markt anzeigt, durchaus. Bei einem Kilo Gold ist das eine ganz andere Sache, da will ich, dass eine Feinwaage benutzt wird. - Das subjektive Phänomen oder die erlebte Wirklichkeit
Das ist das Ereignis, das ein Mensch erlebt zu haben glaubt. Das subjektive Phänomen unterscheidet sich von Mensch zu Mensch, keine zwei Menschen sehen das gleiche, weil beim Erleben immer eine Interpretation eine Rolle spielt. Das wissen vor allem solche Leute, die die „objektive Wahrheit“ ergründen wollen, also zum Beispiel Justiz und Polizei, weshalb sie Zeugenaussagen nur eine bedingte Beweiskraft zugestehen. - Das intersubjektive Phänomen oder die Fiktion
Eine solche Fiktion ist zum Beispiel unser Geld. Mit einem 10-Euro-Schein kann ich mir nur dann etwas kaufen, wenn auch der Verkäufer davon überzeugt ist, dass der Schein 10 Euro wert ist, sonst ist er einfach ein Stück bunt bedrucktes Papier. Es gibt erstaunlich viele solcher Phänomene, zum Beispiel ist eine Firma nur dann handlungsfähig, wenn alle davon überzeugt sind, dass eine Firma wirklich etwas Reales ist – ansonsten ist eine Firma eine Ansammlung von Menschen, Materialien und Gebäuden, die aber keinesfalls selbstständig handeln kann. Das gleiche kann man über einen Staat, eine Religion oder einen Verein sagen. Damit all diese Konstrukte zu einer Realität werden, müssen hinreichend viele Menschen davon überzeugt sein, dass sie real sind. Sie sind es aber nicht, denn sie sind eine Übereinkunft und damit tatsächlich eine Fiktion.
Arten des Gedächtnisses
Es gibt explizite und implizite Gedächtnisinhalte. Als explizit bezeichnet man sie dann, wenn sie das Ergebnis bewusster Denkprozesse sind, über die man nachgedacht hat und die man sich (wie das typische Schulwissen) bewusst gemerkt hat. Aber auch das episodische Gedächtnis, das Erinnerungen an das eigene Erleben beinhaltet, ist explizit. Implizite Gedächtnisinhalte sind dagegen solche, die durch Gewohnheit erzeugt wurden, also zum Beispiel Sprechen. Eine Form des impliziten Gedächtnisses ist das prozedurale, wie zum Beispiel das Gehen oder Fahrrad fahren.
Die erinnerte Vergangenheit ist also das episodische Gedächtnis.
Wie arbeitet unser Gedächtnis
Unser Gehirn ist keine Kamera, kein Rekorder oder Computer. Normalerweise wird das, was wir erleben nirgends „pixelgenau“ aufgezeichnet. Das Erinnern ist also kein mechanisches Auslesen gespeicherter Eindrücke, es ist ein dynamischer und kreativer Prozess. Unsere Erinnerung wird während dieses Prozesses neu erzeugt, und wenn wir und zu einem anderen Zeitpunkt an das gleiche Phänomen erinnern, wird es erneut erzeugt und kann somit ganz anders sein. Deshalb antwortet der Psychotherapeut Gunther Schmidt sinngemäß auf die Frage nach seiner Kindheit: „Ja welche meiner Kindheiten meinen Sie denn? Ich habe nicht nur eine Kindheit, das wäre doch schon ein bisschen zu einfach. Ich habe viele Kindheiten!“ Und Ben Furman nennt sein bekanntes Buch: „Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben“.
Die erinnerte Vergangenheit wird also aus Erinnerungspartikeln, augenblicklichen Stimmungen, dem Kontext und anderen Erinnerungen geschaffen. Auch unsere augenblicklichen Ziele und Absichten prägen unbewusst unsere erinnerte Vergangenheit und geben ihr die Bedeutung, die wir zum jetzigen Zeitpunkt brauchen. Dadurch ist es möglich, Erinnerungen von außen zu suggerieren oder sogar durch Selbstsuggestion falsche Erinnerungen zu schaffen, was in der Vergangenheit vor allem bei angeblich stattgefundener sexualisierter Gewalt vorkam.
Traumatische Erinnerungen
Es gibt zwei Arten von Traumata:
Ein einfaches Trauma wird durch ein einmaliges Erleben eines traumaerzeugenden Phänomens ausgelöst. Ein solches Trauma ist meist weniger belastend, und auch die Erinnerung an das Phänomen kann ungenau sein.
Ein Komplextrauma wird durch das häufige Erleben ähnlicher traumaerzeugender Phänomene ausgelöst und im Gedächtnis verankert. Es ist meist sehr präzise gespeichert, wird aber oft verdrängt. Dabei ist die Verdrängung mehr als Vergessen, bei ihr wird sogar vergessen, dass man etwas vergessen hat.
Durch ein bestimmtes Ereignis kann die Erinnerung allerdings getriggert werden, der Betroffene erlebt dann das Verdrängte detailgenau in allen Einzelheiten (Hypermnesie) und kann nicht erkennen, dass sein Erleben erinnert ist – er hält es für real und im Augenblick geschehend.
Ein Trauma kann sozusagen Regeln für das Gedächtnis aufstellen, mit langfristigen Folgen für die emotionale, kognitive, psychische und sogar physische Funktionsfähigkeit.
Fazit
Man sollte sich also auf sein episodisches Gedächtnis – vor allem wenn es Kindheitserinnerungen betrifft – nicht kritiklos verlassen. Eine Bestätigung eines „wohlmeinenden Zeugens“ ist hilfreich. Einschränkenden Erinnerungen können die Bedeutung gegeben werden, die ihnen zukommt, sodass sie das weitere Leben nicht länger beeinträchtigen. Hierbei helfe ich Ihnen gerne.
Bei Traumata und vor allem posttraumatischen Belastungsstörungen sollten Sie allerdings einen Therapeuten aufsuchen, der auf diesem Gebiet spezialisiert ist und zu diesem Thema viel Erfahrung hat.