Gib aus der Fülle
Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Sei vorsichtig, wenn Dir ein nackter Mann ein Hemd anbietet.“ Ein kluger Rat: wer ein Hemd hat, wird es erst einmal selbst anziehen. Wenn er das nicht tut, scheint irgendetwas mit dem Hemd nicht richtig zu sein. Oder , noch schlimmer, mit seinen Motiven.
In dem Sprichwort geht es, wie man sich leicht denken kann, nicht nur um Hemden. Kennen Sie die Leute, die Liebe predigen, aber sich selbst nichts Gutes tun wollen und sich kasteien? Da scheint die Liebe, die sie predigen, nichts zu taugen, wenn sie sich noch nicht einmal selbst lieben können. Oder die, die Selbstlosigkeit predigen, vom Balkon ihres Palastes herunter?
Geben aus der Bedürftigkeit
Können Sie sich noch an die Anfangszeit der Bio-Bewegung erinnern? Damals schien jeder, der Bio-Ernährung als gesund pries, blass und hager zu sein – ein Phänomen, das ich mir nicht recht erklären kann. Das war wohl ein Grund, weshalb sich diese Bewegung so schwer durchgesetzt hat: jeder verband ungesundes Aussehen mit Bio. Zwar kannte niemand das afrikanische Sprichwort, trotzdem handelte jeder danach.
Es gibt viele andere Beispiele: Der Esoteriker, der mir geistige Gesundheit verspricht, gleichzeitig aber ganz offensichtlich psychische Probleme hat. Der Trainer, der mir Wege zum Reichtum verspricht, selbst aber schon wegen betrügerischem Bankrott im Gefängnis saß. Der Arzt, der mir die Gefahren des Übergewichts schildert, selbst aber einen Bauch vor sich her schiebt. Und, und, und …
Geben und Nehmen sollten immer in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. Wenn jemand nur gibt, ist bald seine Bereitschaft zu Geben erschöpft, er wird sich verweigern. Denken Sie an einen Verein, in dem den der Vorsitzende unendlich viel Arbeit und Zeit investiert, ohne dass die Vereinsmitglieder etwas anderes tun als Konsumieren. Der Verein wird nicht lange halten, irgendwann wird der Vorsitzende enttäuscht und frustriert alles hinschmeißen.
Vernünftiges Geben und Nehmen
Vernünftiges Geben wird gut beschrieben in der Geschichte von St. Martin, der seinen halben Mantel einem frierenden Bettler gegeben hat. Man übersieht bei dieser Geschichte leicht: Er hat einen halben Mantel behalten. Er war also nicht selbstlos, sondern hat auch für sich selbst gesorgt. Sonst wäre er erfroren.
Am besten ist es, wenn im Geben auch Nehmen enthalten ist und im Nehmen auch Geben. Wie das geht? Das können Sie in jedem funktionierenden Netzwerk sehen. In einer guten Nachbarschaft gibt jeder, denn er weiß, er bekommt auch zurück. Wenn einer der Nachbarn krank ist, kehrt halt ein anderer die Straße für ihn mit. Er baut sich so ein Guthaben an guten Taten auf, von dem er zehren kann, wenn es ihm selbst schlecht geht. Ein anderes Beispiel sind die Rotariern: da sollte jeder von Zeit zu Zeit einen Vortrag vor den Rotarier-Freunden halten. Das tut jeder gern, denn zum einen macht es Spaß, vor Freunden einen Vortrag zu halten, zum anderen weiß er, dass ihm bald auch andere interessante Vorträge geboten werden.
Faires soziales Handeln
Eine funktionierende Gesellschaft achtet auf ausgewogene Verhältnisse. Die gesellschaftlichen Probleme, die Deutschland seit einigen Jahren hat, kommen nicht von Ausländern oder Immigranten, sondern daher, dass ganze Teile der Bevölkerung wirtschaftlich abgehängt wurden, während andere sich immer mehr nehmen konnten. In den 60’ern waren die Menschen insgesamt sicher ärmer und konnten sich nicht so viel leisten, aber der Reichtum – oder die Armut – war gleichmäßiger verteilt. Heute klafft die Schere zu weit auseinander, und das bringt Unzufriedenheit, was wiederum zu sozialen Spannungen führt. Deshalb müssen sich die Reichen einigeln, und die Armen fühlen sich weiter ausgegrenzt. Und da es keine Berührungspunkte mehr zwischen Arm und Reich gibt, kommt es zu so unsäglichen Aussprüchen aus den Reihen einer christlichen(!) Partei: „Hätten Sie was ordentliches gelernt, bräuchten Sie keine drei Jobs!“
Geben und Nehmen aus systemischer Sicht
Geben und Nehmen muss also in einem ausgewogenen Verhältnis sein. Dieses Ausgleichsprinzip ist auch einer der Grundsätze des systemischen Denkens und Handelns. Es fordert keinen exakten Ausgleich, sondern dass man den Ausgleich im Guten vermehrt und im Schlechten vermindert.
Der Ausgleich besteht aus der Anerkennung der Ausgleichsverpflichtung, also der Anerkennung, dass man, weil man etwas erhalten hat oder sich etwas genommen hat, zu einem Ausgleich verpflichtet ist. Dazu kommt dann der Ausgleich selbst, also das, was man zurückgibt. Ohne Anerkennung der Ausgleichsverpflichtung verkommt der Ausgleich zur Bezahlung, ohne Ausgleich bleibt die Anerkennung der Ausgleichsverpflichtung eine hohle Floskel. Auch muss der Ausgleich so erfolgen, dass der Empfänger etwas mit ihm anfangen kann, er muss also in seiner „Währung“ erfolgen.
Fazit
Hält man sich an diese Grundsätze, kommt es weder zu Neid noch zu Missgunst. Das Zusammenleben wird einfacher und ersprießlicher, auch wenn es nie ganz ohne Probleme sein wird. An denen können wir aber dann gewinnbringend arbeiten. Aber Sie müssen bereit sein, in Vorleistung zu treten, müssen sich zuerst ein soziales Guthaben erarbeiten, damit das Miteinander funktioniert. Sonst wartet jeder auf den anderen – und nichts passiert.