Hab‘ keine Angst!
Wenn jemand Angst hat ist dieser Satz sowohl sinnlos als auch kontraproduktiv – oder hast du schon einmal erlebt, dass es einem Kind die Angst vor dem Ungeheuer unterm Bett genommen hat, wenn man ihm gesagt hat, es solle keine Angst haben?
Es ist nun einmal so – wenn wir Angst haben, werden wir wieder zum Kind, denn Angst triggert unsere Kinderängste und unsere Kindheitstraumata. Wir brauchen diese Traumata noch nicht einmal selbst erlitten zu haben, wir können Sie von Ihrem Eltern, ja sogar von den Großeltern geerbt haben, durch übertragenes Verhalten oder durch Epigenetik. So haben heute noch viele Deutsche die unbewusste Angst, dass nichts sicher ist. Ihre Eltern oder Großeltern haben Krieg und Vertreibung mitgemacht, diese Ängste wurden überarbeitet und so an die Enkel weitergegeben.
Ängste nicht verdrängen!
Heute wissen wir, dass wir Ängste nicht verdrängen dürfen, sie werden dadurch nur mächtiger. Das steuernde Ich, also das, das mit dem Großhirn agiert, hat dann überhaupt keinen Einfluss mehr auf unser Denken und Handeln. Automatisch reagieren wir dann mit unserem Unterbewussten. Das ist durchaus sinnvoll, denn das stammesgeschichtlich ältere „Echsenhirn“, in dem das Unterbewusste verortet ist, ist schneller als unser bewusstes Denken und deshalb in akuten Gefahrensituationen hilfreich, womöglich sogar lebensrettend. Aber in der Angst springt es selbst dann an und übernimmt das Handeln, wenn wir Zeit zum Nachdenken haben, und es hat nur drei Handlungsoptionen: Angriff, Flucht oder Erstarrung. Wenn wir uns die Pegida-, Impfgegner- oder die Pro-Russland-Demos anschauen, werden wir genau diese Verhaltensweisen finden. Vor allem der Angriff aus Angst ist weit verbreitet. Denn aus welchem anderen Grund sollte jemand eine Person umbringen wollen, der andere Leute impft oder an das Tragen von Masken erinnert oder der Ausländer akzeptiert? Das erscheint nur unserem Unterbewussten sinnvoll, wenn es im Angriffs-Modus ist. Es glaubt, dass das Verschwinden der Person, die mich an die Bedrohung erinnert, auch die Bedrohung verschwinden lässt. Der Überbringer der Botschaft wird also geköpft, was allerdings die Botschaft nicht verschwinden lässt.
Was hilft gegen Ängste?
Also – Angst verdrängen hilft nicht. Was hilft dann?
- Der erste Schritt ist, zugeben, dass man Angst hat und diese Angst auch zuzulassen, sich die Angst also bewusst machen. Dadurch wird unsere Angst auch für unser Großhirn greifbar, das sich mehr als drei primitive Handlungsoptionen ausdenken kann.
- Der zweite Schritt ist, sich das Schlimmste, was überhaupt passieren könnte, vorzustellen und sich dann zu fragen, wie wahrscheinlich ein solches Ereignis ist. Meist stellt man dann fest, dass man in der Angst einen übergroßen Popanz, einen Scheinriesen, aufgebaut hat.
- Der dritte Schritt ist, die Frage, was gegen das angstbesetzte Ereignis getan werden kann – und dann auch in Aktion zu treten. Wenn wir zur Verhinderung des Ereignisses nichts getan werden kann, kann man sich dann darauf vorbereiten? Geht auch das nicht, ist das Ereignis und seine Folgen bewusst zu akzeptieren. Diese Akzeptanz hilft, mit der Angst davor zu leben.
Das alles sind aber nur erste Schritte, sozusagen der Erste-Hilfe-Koffer gegen Angst. Um wirklich mit ihr klar zu kommen, ist einiges mehr an Aufwand notwendig. Wir haben uns schließlich schon unser ganzes Leben vor Ereignissen gefürchtet und gelernt, diese Ängste zu verdrängen. Da müssen wir schon ein bisschen Zeit und Arbeit in unsere neue Fähigkeit stecken, die Angst anzuschauen, mit ihr zu leben und sie so zu entschärfen.
So mache ich mir klar, dass nicht „ich“ Angst habe, sondern ein bestimmter Persönlichkeitsanteil von mir. Ich kann dann untersuchen, welcher Anteil das ist – meist ist es ein kindlicher – und mich fragen, was dieser braucht, um die Angst loszulassen. Oft personalisiere ich auch die Angst und frage, was die Angst braucht, um loszulassen. Das Arbeiten mit Persönlichkeitsanteilen setzt allerdings voraus, zu lernen und üben, aber sie hilft nicht nur in diesem Fall, sondern immer, wenn das Unterbewusste übermächtig wird.
Unbewusste Ängste
Sonderbarerweise haben gerade rechtsgerichtete Männer, die sich selbst als ein „Kerl wie ein Baum“ sehen, die meisten unbewussten Ängste. Denn Ängste sind für sie unmännlich, eines stolzen Deutschen (Franzosen, Italiener, Amerikaner, …) nicht würdig – und so werden sie verdrängt. Eine solche rechte Gesinnung entsteht oft in der Kindheit, es gibt den Spruch: „Zeige mir einen Rechten und ich zeige Dir ein geprügeltes Kind.“ Die Angst, die diese Kinder vor ihren Eltern hatten, durften sie natürlich nicht zeigen, sonst wären sie als „Schlappschwanz“ noch heftiger verprügelt worden. Weil in ihrer Kindheit Probleme nur mit Gewalt angegangen wurden, sind diese Menschen gewaltbereit, sobald sie ein Problem sehen. Dabei projizieren sie alles, was sie an sich selbst nicht mögen, auf andere und sind bereit, diese dann für diese nur projizierten Fehler zu bestrafen. Dabei sind sie nicht bereit, ihr unerwünschtes Verhalten abzulegen, obwohl jedem die Neuroplastizität, also die Fähigkeit zur Veränderung seiner selbst, bis ins hohe Alter erhalten bleibt.
Komplexität macht Angst
Unsere Welt ist inzwischen hochkomplex geworden, und diese Komplexität macht Angst, denn sie lässt keine einfachen Lösungen zu. Viele fühlen sich nicht mehr in der Lage, wirksam zu handeln, und so haben simple Lösungen, die scheinbar aus dieser Handlungsunfähigkeit herausführen, Hochkonjunktur. Das kann eine Verschwörungsmythos sein („Die XXX sind an allem schuld!“, oder, bei sehr komplexen Problemen, die „Echsenmenschen“) oder auch ein Mensch, der einfache Lösungen anbietet, ein „grand simplificateur“. Dass dieser komplexe Zusammenhänge unzulässig vereinfacht, fällt erst auf, wenn seine Lehren angewendet werden. Das sind also jene Politiker, die in der Opposition Eindruck machen, aber in der Regierung kläglich versagen.
Wann nützt Angst?
Ich möchte an dieser Stelle aber auch darauf hinweisen, dass Angst auch eine positive Funktion hat. Wir sind alle die Nachkommen von Menschen, die in der Lage waren, Angst zu empfinden. Die Menschen ohne Angst sind gar nicht dazu gekommen, sich fortzupflanzen, sie sind sehr jung in einer Gefahr umgekommen, vor der sie keine Angst gewarnt hat. Es gibt immer noch den einen oder anderen Mensch ohne Angst, aber der leidet an einer psychischen Störung, er ist Soziopath und nicht in der Lage, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden. Meist wird er in Gefängnissen oder Krankenhäusern zu finden sein.
Dazu kommt, dass Angst energetisiert, sie reißt uns aus dem bequemen „Weiter so!“ heraus und zwingt uns zu Veränderungen. Denn oft empfinden wir diese als negativ und möchten sie vermeiden. Angst, wie auch die Wut, weisen uns auf Dinge hin, die wir trotzdem ändern sollten. Was wir deshalb ablegen sollten, ist die übertriebene Angst vor Veränderungen, denn wir können unsere Welt nur erhalten, indem wir sie verändern.
Fazit
Durch die Komplexität unserer Welt sind Ängste zu einem weitverbreiteten Phänomen geworden. Wir sollten uns also unserer Ängste bewusst werden, sollten wagen, sie anzuschauen und sie akzeptieren, damit wir mit ihnen leben können, ohne dass sie uns beherrschen.