Kinder und ihre Bedürfnisse II
Im letzten Beitrag habe ich angekündigt, eine Liste der wichtigsten seelischen Grundbedürfnisse der Kinder zu veröffentlichen. Die Liste ist nicht nur für Eltern wichtig, sondern auch für erwachsene Kinder (und das sind wir schließlich alle). Denn wir erkennen so einige Blessuren, die wir als Kinder davongetragen haben, Mängel, an denen wir vielleicht bis heute leiden.
Eltern sind (meist) nicht bewusst bösartig
Wir sollten – außer bei süchtigen oder psychopatischen Eltern – immer davon ausgehen, dass Eltern das Beste für ihre Kinder wollen. Auch wenn das abgedroschen klingt, sollten wir doch überlegen, warum es bei uns zu Erziehungsfehlern gekommen ist. Konnten die Eltern nicht anders, oder wollten sie nicht? Inwieweit waren sie selbst durch ihre Erziehung so geprägt, dass es fast zwangsläufig zu Erziehungsfehlern kommen musste? Es gibt allerdings übergriffiges Verhalten, was unentschuldbar ist, wie etwa Missbrauch, psychische oder physische Misshandlungen.
Kriegstrauma
Vergessen Sie nicht, Ihre Großeltern waren durch Krieg und Vertreibung oft traumatisiert, und die Erziehung durch einen traumatisierten Elternteil wird immer mangelhaft sein. Denn nach dem Krieg wurde nichts gegen die Traumata getan, es hieß: „Augen zu und durch!“ Und so wurde ohne Rücksicht auf die Kinder Deutschland wieder aufgebaut. Es gab da ja auch noch die Nazi-Erziehungsfibel „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, in der wirklich krankmachende Erziehungsratschläge gegeben wurden. Das Buch wurde übrigens bis in die 80’er verlegt. Und dann natürlich die alten Sprüche: „Was Dich nicht tötet macht Dich nur härter!“ und: „Ein deutscher Junge weint nicht!“ Damit sind Ihre Eltern aufgewachsen.
Die Liste
Die Liste der neun wichtigsten Grundbedürfnisse zeigt jeweils nach der Benennung des Bedürfnisses vier Unterpunkte A bis D.
- Punkt A beschreibt, was Eltern ihrem Kind damit sagen, ihre Leitlinien, wenn sie dieses Grundbedürfnis erfüllen, was die Eltern den Kindern, wenn auch nicht unbedingt mit Worten, mitteilen.
Wenn das Bedürfnis ungenügend befriedigt wurde:
- Punkt B beinhaltet die Skripte, die durch den Mangel im Kind verankert werden und was das Kind durch sie wahrnimmt.
- Punkt C beschreibt die Auswirkungen des Mangels im Erwachsenenalter.
- Punkt D beschreibt Beispiele von Lösungssätzen, die dem Erwachsenen helfen, den Mangel zu erkennen, zu verarbeiten und das Skript oder die Skripte loszulassen.
Als Skript ist hier eine Einschärfung oder ein Antreiber im Sinne der Transaktionsanalyse gemeint. Das Konzept der Skripte geht davon aus, dass Kinder eine Kombination aus Glaubenssätzen und Verhaltensmuster aus ihrer Umgebung übernehmen, die sie im Erwachsenenalter beibehalten. Skripte sind immer einschränkend, weil sie die Handlungsmöglichkeit eines Menschen einengen. Um als Erwachsener frei agieren zu können, sollten man sich diese Skripte bewusst sein und sich von ihnen lösen.
Ein Lösungssatz kann z. B. bei der Stuhlarbeit oder Aufstellungen genutzt werden, um den Mangel sichtbar zu machen und seine Auswirkungen zu neutralisieren. Diese Sätze sind knapp gehalten, da sie Gefühle und nicht den Intellekt ansprechen sollen.
Die Liste der wichtigsten Grundbedürfnisse (1-5)
· Einen Platz haben
- Du darfst auf der Erde sein, denn Du bist erwünscht. Du hast einen Platz in unserem Herzen. Wir sind froh, dass es Dich gibt.
- „Sei nicht!“, „Sei nicht wichtig!“, „Gehöre nicht dazu!“
Ich bin im Wege und unerwünscht. Ich störe und es wäre besser, es gäbe mich nicht. - Unruhe, Rastlosigkeit, Minderwertigkeitsgefühle. Aus Protest wird der Mensch rücksichtslos gegen andere. Aber auch gegen sich selbst zeigt er rücksichtsloses Verhalten, er ist anfällig für Süchte, Risiken und selbstschädigendem Verhalten bis zum Suizit.
- „Ich finde mich und meinen Platz im Leben.“, „Ich darf mich der Welt zeigen und mich als wert erachten.“
· Raum und Entfaltung
- Du darfst Dich innerhalb Deiner Grenzen entfalten. Wir sorgen dafür, dass die Grenzen möglichst weit, aber Dir und deiner Fähigkeiten angemessen sind.
- „Sei nicht Du!“, „Sei gefällig!“
Konventionen und Regeln bestimmen mein Leben, ich darf diese Grenzen auf keinen Fall überschreiten, weil sonst etwas Schreckliches passiert. - Die Kreativität und die Nutzung eigener Talente sind stark eingeschränkt. Die eigenen Möglichkeiten können nicht genutzt werden.
- „Ich will wissen, wer ich bin und was ich will.“, „Ich war zu eng gehalten und werde nun lebendig sein.“
· Respekt
- Wir haben Achtung vor Deiner Person und Deiner Persönlichkeit. Wir schätzen Deine Fähigkeiten realitätsgerecht ein und freuen uns über Deinen Weg in die Welt.
- „Sei nicht wichtig!“, „Werde nicht erwachsen!“, „Gehöre nicht dazu!“
Ich muss die Wünsche und Vorstellungen meiner Eltern erfüllen. Ich muss ihre Träume leben. Meine eigenen Neigungen sind nicht wichtig. - Betroffene sind später oft übersensibel auf eine Einflussnahme von außen. Sie haben Identitätsschwierigkeiten und Schwierigkeiten, eigene Wünsche zu erkennen, zu äußern und zu verwirklichen.
- „Ich bin nicht Du und Deins ist nicht Meins.“, „Nach Deinem Wunsch sollte ich sein, nun bin ich bei mir.“
· Fürsorge
- Wir kümmern uns um Dich und Deine Belange, sofern Du das noch nicht selbst kannst. Wir wenden uns Dir liebevoll zu und sorgen für Deine Belange.
- „Sei kein Kind!“, „Gehöre nicht dazu!“
Niemand sieht meine Bedürfnisse. So muss ich raffen, was ich bekommen kann. Ich habe zu wenig bekommen und kann deshalb nichts weitergeben. - Unersättlichkeit, was Zuwendung betrifft, kann die Folge dieses Mangels sein, aber auch Unsicherheit über den eigenen Wert und ihrer Bedeutung für Anderen. Betroffene sind von Verwahrlosung und messiehaften Verhalten gefährdet.
- „Du warst nicht für mich da, doch jetzt sorge ich für mich.“
· Schutz
- Wir bieten Dir Schutz und Geborgenheit, wir stehen Dir bei. Wir trösten Dich und lindern Deine Angst.
- „Sei stark!“, „Fühle nicht!“
Ich kann mich nicht auf Andere verlassen, ich darf nur auf mich selbst vertrauen. Ich darf keine Gefühle zeigen, denn die machen mich verwundbar. Ich bin allein. - Betroffene sind unfähig, Gefühle wahrzunehmen. Sie sind hilflos, schreckhaft, ängstlich und labil, dürfen das aber nie zugeben. Nach außen tendieren sie entweder dazu, sich zu verstecken, nicht ins Außen zu gehen oder zur Vermeidung ihrer Ängste zu Großspurigkeit und Selbstüberschätzung.
- „Ich habe Dich gebraucht, und Du warst nicht da!“, „Jetzt mache ich mich auf in die Welt, aufgehoben und geschützt.“
Es geht weiter
Ich möchte noch drei weitere wichtige Bedürfnisse schildern, die im nächsten Beitrag folgen.