Religionen (I)
Warum beschäftige ich mich in einem psychologischen Blog überhaupt mit Religionen? Habe ich mit den verschiedenen Themen der Psychologie nicht genug zu tun?
Schon, aber wir können nicht verleugnen, dass wir in einer religiös geprägten Gesellschaft aufgewachsen sind und wir deshalb von Religionen geprägt sind. Religionen – auch wenn wir selbst keiner angehören – haben einen unterbewussten und darum erheblichen Einfluss auf unser Denken und Handeln, da unsere Gesellschaft religiöse Wurzeln hat und wir deshalb von Kindheit an eine Religion sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen haben. Eltern, Großeltern und die Umgebung hat uns indoktriniert, dass „man“ eine Religion haben muss, denn ohne Religion habe das Leben keinen Sinn und Menschen ohne Religion hätten auch keine Moral. Das ist allerdings ein Totschlagargument, für das es keine vernünftige Begründung gibt. Wenn ich nur Moralgesetzen folge, weil es einen strafenden Gott gibt, habe ich keine Moral, sondern nur Angst.
Ich bin also keineswegs einer Meinung mit einer Kirche. Aber um mich von ihr lösen zu können, musste ich mir erst einmal über die Lehren der Religionen klar werden, mir also ihren unterbewussten Einfluss auf mich in mein Bewusstsein holen. Ich lernte also Religionen mit dem Verstand und nicht nur mit dem Gefühl zu begreifen. Faktenwissen über die verschiedenen Arten der Religionen war dafür hilfreich.
Animismus
Jäger- und Sammlergesellschaften, die sogenannten Wildbeuter, sind keinesfalls primitiv. Ihre Lebensweise erfordert ein hohes Maß an Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und speziellen Kenntnissen über Natur und Umwelt. Deshalb ist ihre religiöse beziehungsweise philosophische Überzeugung meist animistisch geprägt, Menschen, Tiere und Pflanzen, ja sogar Gewässer, Felsen und Berge sind für sie beseelt, haben eine Anima. Somit sind alle Entitäten, insbesondere Mensch und Tier gleichgestellt, der Mensch ist nicht „Krone der Schöpfung“, sondern nur ein Teil von ihr. Der Animismus hat die Menschheit den Großteil ihrer Entwicklung begleitet.
Es gibt nach animistischer Auffassung meist auch übergeordnete Animae, also zum Beispiel die Anima aller Rehe, die ein Wildbeuter um Erlaubnis bittet, wenn er ein Reh erlegen möchte. Diese Gattungs-Anima stellt ihm dann eines ihrer Mitglieder, also ein Reh, zur Verfügung, damit er sich von diesem ernähren kann. Er entschuldigt sich bei diesem Reh, dass er es erlegt hat und dankt der Anima der Rehe für deren Gabe. Er wird immer nur so viele Rehe erlegen, wie er braucht, Verschwendung wird als Beleidigung der Gattungs-Anima gesehen. Manchmal gibt es nach Auffassung der Wildbeuter auch einen höchsten Geist, der für die Ordnung aller Animae sorgt.
Der Animismus benötigt keine Priester, jeder kann sich an die Animae und auch an den höchsten Geist direkt wenden. Allerdings gelten oft Ahnen als mächtige Unterstützer der lebenden Menschen, die deshalb besonders verehrt werden. Hier ist der Übergang zum Polytheismus fließend. Außerdem gibt es oft Spezialisten, die einen besonders guten „Draht nach oben“ haben. Sie werden von Anthropologen „Schamanen“ genannt, obwohl eigentlich nur die tungusischen Völker in Sibirien sie so genannt haben, andere Völker hatten andere Bezeichnungen.
Auch schon bei den Wildbeutern haben Schamanen versucht, für sich eine Sonderstellung, also priesterliche Macht zu erlangen. Allerdings war das Schamanenamt mit vielen Pflichten verbunden, so dass niemand freiwillig Schamane wurde. Damit wurden machthungrige Charaktere von diesem Amt weitestgehend abgeschreckt.
Polytheismus
Vor ca. 10.000 Jahren kam es zur neolithischen Revolution, bei der sich die Menschen zu Bauern und Viehzüchtern weiterentwickelten. Weil sie im Zuge dessen nützliche und ertragreiche Tier- und Pflanzenarten nach ihren Vorstellungen züchteten, hielten sie es nicht mehr für angemessen, Tiere und Pflanzen als ihnen gleichgestellt zu sehen. Es wurden Religionen entwickelt, die rechtfertigten, dass sich der Mensch die Erde und die Wesen auf ihr untertan machte. So entstand in Nachfolge des Ahnenkults der Polytheismus, der Glaube an viele verschiedene Götter und Göttinnen, die jeweils für einen bestimmten „Fachbereich“ zuständig waren. Die Götter und Göttinnen zeigen sich den Menschen nicht in ihrer eigentlichen Gestalt, kommen allerdings ab und zu als Menschen „verkleidet“ auf die Erde. Sie sind den Menschen aber durch die Auswirkung ihres Tuns (Blitz und Donner, Vulkanausbrüche, Fruchtbarkeit, Sturm und so weiter) erfahrbar. Die Götter haben menschliche Eigenschaften, sie werden zornig, lieben und streiten. Oft kämpft ein Göttergeschlecht gegen das andere. So werden die Götter zwar als sehr mächtig und weit über den Menschen stehend gesehen, aber sie sind durchaus sinnlich begreifbar und man kann mit ihnen verhandeln.
Es gibt zusätzlich ein universelles Prinzip, sozusagen Spielregeln, denen sich auch die Götter unterwerfen müssen. Bei Griechen, Römern und Germanen wurde das zum Beispiel durch drei übergeordnete Schicksalsgöttinnen symbolisiert, die den Schicksalsfaden für alle Wesen spinnen, leiten und abschneiden. Aber es gab noch andere durch übergeordnete Gottheiten symbolisierte Prinzipien, so zum Beispiel den blinden Zufall oder das Schicksal, das auch für die Götter unausweichlich zur „Götterdämmerung“ und damit deren Vernichtung führte.
Der Polytheismus benötigt Priester, die für die Vermittlung zwischen Menschen und Göttern zuständig sind. In den meisten polytheistischen Religionen haben sich allerdings Reste des Animismus erhalten. So gab es zum Beispiel Nymphen, weibliche Naturgeister, die über bestimmte Berge, Grotten, Bäume oder Gewässer wachten. Sie ähnelten den Animae und waren keine Götter. Außerdem gab es Halbgötter, die aus der Verbindung von Göttern mit Menschen entstanden und die manchmal nach ihrem Tod in den Rang von Göttern erhoben wurden. Ich möchte hier an den wohl bekanntesten erinnern, Herakles beziehungsweise Herkules.
Der Polytheismus missioniert nicht, denn da er viele Götter kennt, ist es für ihn selbstverständlich, dass andere Völker andere Götter haben. Aus ihm entwickelten sich der Monotheismus und der Dualismus, die im nächsten Blog behandelt werden.