Schuldgefühle und Scham
Schuld und Scham scheinen zusammenzugehören, scheinen aufeinander zu folgen. Schuldgefühle und Scham scheinen dasselbe zu sein. Tatsächlich aber unterscheiden sie sich, im Ursprung und in ihren Auswirkungen.
Wann empfinden wir Schuldgefühle?
Wir haben Schuldgefühle, wenn wir eine Schuld auf uns geladen haben, durch eigenes Verhalten und in eigener Verantwortung. Wir haben einem oder mehreren anderen Menschen geschadet, jedenfalls in unserem Empfinden. Denn es kann durchaus sein, dass der andere oder die anderen das ganz anders sehen und uns für das Negative, das sie erleiden mussten, nicht verantwortlich machen oder es gar nicht als negativ empfinden. Trotzdem fühlen wir uns schuldig, denn diese Gefühle entstehen nicht durch fremdes Urteil, sondern durch unsere eigenen Vorstellungen von Schuld.
Es kann sogar sein, dass wir uns schuldig fühlen für Dinge, die wir nicht getan haben und für die wir nicht verantwortlich sind. Wir verantworten nicht die Taten unserer Vorfahren, trotzdem fühlen sich nicht wenige Menschen für diese schuldig. Dabei können wir für diese Taten nur die Verantwortung übernehmen, indem wir dafür sorgen, dass sie sich nicht wiederholen und indem wir versuchen, ihre Folgen wiedergutzumachen. Wir sind nicht schuldig geworden, denn wir haben die Taten nicht begangen. So können das Erbe der Folgen der Taten unser Väter antreten, nicht aber deren Schuld auf uns nehmen.
Viele psychische Störungen entstehen dadurch, dass ein Mensch meist unbewusst die Schuld für die Taten anderer übernimmt. Wenn wir uns einem Menschen verbunden fühlen, zum Beispiel einem Elternteil, fühlen wir uns auch dessen guten und schlechten Taten verbunden, im schlimmsten Fall fühlen wir uns sogar für sie verantwortlich. Eine wesentliche Aufgabe psychologischer Begleiter ist es, diesen Menschen zu ermöglichen, die Schuld denen zurückzugeben, die die Taten begangen haben und sich so von den übernommenen Schuldgefühlen zu lösen.
Jeder hat das Bestreben, sich von einem Schuldgefühl zu lösen. Oft wird dabei die Schuld auf andere projiziert, meist auf das Opfer („Sie ist ja selbst schuld, was zieht sie auch so einen kurzen Rock an!“). Allerdings gelingt es in den seltensten Fällen, uns damit dauerhaft von Schuld freizusprechen, die Schuldgefühle kommen in der Regel verstärkt wieder, vielleicht sogar an anderer Stelle. Erfolg können wir nur haben, indem wir den Zustand vor der schuldbewehrten Tat soweit es geht wiederherstellen und beim Opfer um Vergebung bitten, dieser kann uns dann vergeben. Den Täter entschuldigen, also dessen Schuld aufheben, ist das Vorrecht des Opfers, nicht des Täters.
Wann empfinden wir Scham?
Scham empfinden wir dann, wenn wir etwas getan haben, was wir als gesellschaftlich unerwünscht empfinden, wenn wir uns also „daneben benommen“ haben. Wenn zum Beispiel jemand in der Öffentlichkeit laut rülpst, wird er sich anschließend schämen. Ist das Rülpsen in der Gesellschaft, in der er sich befindet, allerdings akzeptiert, und er weiß das auch, gibt es keinen Grund, sich zu schämen.
Für eine berechtigte Scham über ein Verhalten gibt es also vier Voraussetzungen:
- Das Verhalten muss wirklich passiert sein – ich brauche mich nicht für eine Sache zu schämen, die mir nur nachgesagt wird, die ich aber nicht getan habe, also für eine üble Nachrede oder Verleumdung.
- Das Verhalten muss gesellschaftlich unerwünscht sein – wenn sie nicht gesellschaftlich sanktioniert ist, gibt es keinen Grund, sich zu schämen.
- Ich muss wissen, dass das Verhalten gesellschaftlich unerwünscht ist, wenn ich das nicht weiß, habe ich auch keinen Grund, mich zu schämen. Von einem Kleinkind, das ein „Bäuerchen“ macht, wird niemand verlangen, dass es sich schämt.
- Das Verhalten war vermeidbar, war sie das nicht, ist Scham nicht angebracht. Liegt zum Beispiel jemand hilflos auf der Straße, ist das kein Grund für Scham, wenn er ein Unfallopfer ist.
Schuldgefühle, Scham und Schmerz
Schuldgefühle und Scham sind wie körperlicher Schmerz – unerwünscht, aber unabdingbar. Es gibt Menschen, die keinen Schmerz empfinden. Das klingt erst einmal beneidenswert, bis man sich mit der Warnfunktion des Schmerzes beschäftigt. Diese Menschen müssen sich ständig beobachten (lassen), ob sie sich irgendwo verletzt haben – sie merken es ja nicht.
Das Verhalten eines Menschen ohne Schuldgefühle ist für andere unerträglich. Er würde anderen Menschen schaden, ohne sich darüber Gedanken zu machen, ja manchmal sogar, ohne es zu merken. Solche Menschen nennt man psychopatisch bzw. soziopatisch oder sie haben eine antisoziale Persönlichkeitsstörung. Er nimmt die Verletzungen und Gefühle anderer Menschen nicht wahr und ist somit blind für eigene Schuld.
Auch ohne Schamempfinden wäre ein gesellschaftliches Zusammenleben ausgesprochen schwierig, da ein schamloser Mensch die Anforderungen, die die Gesellschaft an sein Verhalten stellt, nicht erkennt. Verhält er sich nicht sozialverträglich, wird dieses Verhalten also nicht durch eigene Schamgefühle sanktioniert. Natürlich ist das Schamgefühl von der Gesellschaft abhängig, denn Scham ist im Sozialisationsprozess erlernt. In verschiedene Gesellschaften sind sehr unterschiedliche Verhalten schambehaftet.
Phantomschmerz
Schuldgefühle, ohne Schuld auf sich geladen zu haben und Scham ohne etwas getan zu haben, was gesellschaftlich unerwünscht ist, zeigt sich wie Phantomschmerz in einem amputierten Glied. Gegen die Ursache echten Schmerzes kann ein Arzt etwas zu unternehmen versuchen, gegen die des Phantomschmerzes nicht.
Bei einem Schuldgefühl für eine Schuld, die ich nicht verantworte, ist es notwendig, diese Schuld demjenigen zurückzugeben, zu dem diese Schuld gehört. Das ist möglich, sogar bei Tätern, die längst gestorben sind, denn es ist ein Vorgang der eigenen Psyche. Wenn Sie sich dafür interessieren, kontaktieren Sie mich bitte.
Es gibt auch irrationale Schuld- und Schamgefühle, die rein auf eigenen Phantasien beruhen. Scham ohne ein entsprechendes Verhalten zu empfinden, ist meist in einer zu strengen Erziehung zu suchen, die sich einzig und allein an anderen ausgerichtet hat („Was sollen denn da die Nachbarn sagen?!“). Auch diese können bearbeitet werden, indem man seine Traumata anschaut oder Introjekte (im Sinne innerer Persönlichkeitsanteile) findet und deren Kompetenz bewertet.
Ein Beispiel: Lügen
Wenn wir lügen, schämen wir uns normalerweise anschließend, denn wir sind so sozialisiert, dass wir das Lügen als etwas Unerwünschtes, Schlechtes betrachten. Leben wir aber in einer Umgebung, in der Lügen normal ist, werden wir auch keine Scham empfinden. Der Kriminologe Jens Weidnerhat festgestellt, wann dieser Effekt besonders wirksam ist: „Wenn Menschen sehen, dass die Mächtigen in Politik und Wirtschaft sich mit haarsträubenden Lügen Vorteile verschaffen, sagen sie sich: Das kann ich auch!“ Die sogenannten Eliten haben also Vorbildcharakter, nicht nur im Guten, sondern auch im Schlechten. Sie haben deshalb nicht nur Privilegien, sondern auch eine besondere Verantwortung, die sie aber in vielen Fällen nicht wahrnehmen.
In der Familie gilt dasselbe: Eltern, die selbst häufig schwindeln, werden ihre Kinder nicht zur Ehrlichkeit erziehen können, denn die Kinder machen den „Mächtigen“ – in diesem Fall den Eltern – alles nach. Eine Erziehung, die Lügen sanktioniert, ist dann wirkungslos.
Fazit
Berechtigte Schuldgefühle vergehen nicht von alleine, der Schuldige muss etwas dafür tun, um nicht mehr unter ihnen zu leiden, zum Beispiel indem er versucht, die Folgen seiner Tat wiedergutzumachen und beim Opfer um Verzeihung bittet. Auch wird sich jeder Mensch in seinem Leben des Öfteren blamieren, darüber Scham zu empfinden, ist natürlich, denn das ist der Sinn der Scham.
Gegen unberechtigte Schuldgefühle oder übertriebene Scham hingegen kann man etwas unternehmen, es gibt Methoden der Begleitung, die hier helfen. Sollten Sie darunter leiden, dann kontaktieren Sie mich. Wir werden gemeinsam herausfinden, was zu tun ist.