Sucht als Symptom
Eine Sucht hat, wie jede Erkrankung, Symptome. Um nur einige zu nennen: Vernachlässigung von sich selbst und seinen Angehörigen, Arbeitsunfähigkeit, körperliche Schäden, soziale Vereinsamung, Beschaffungskriminalität. Eine Sucht ist aber auch fast immer ein Symptom für eine seelische Störung oder Erkrankung. Und dieser Aspekt wird meist vergessen oder zu wenig betrachtet, vor allem von den Suchtkranken selbst.
Was ist ein Symptom?
Wenn ich eine Erkältung habe, läuft die Nase. Ich habe Husten, Fieber und Kopf- und Gliederschmerzen. Das sind Symptome. Nun könnte ich die Kopfschmerzen zum Beispiel mit Kopfschmerztabletten bekämpfen, sie würden dann verschwinden. Aber wäre ich dann gesund?
Nein, ich leide nur nicht mehr an diesem Symptom, jedenfalls solange ich die Tabletten nehme. Wenn ich allerdings die Erkältung los bin, habe ich auch keine Kopfschmerzen mehr – auch ohne Tabletten. Das heißt, wenn die Krankheit verschwindet, verschwinden mit ihr auch die Symptome.
Und wie ist das bei Süchten?
Wenn die Sucht als die eigentliche Krankheit begriffen wird und alles, was nicht in Ordnung ist und schief läuft, als Symptom, dann würden auch alle Symptome verschwinden, wenn ich auf das Suchtmittel verzichte.
Das kann durchaus in einigen wenigen Fällen so sein. Wenn ich einen Stoff, der bei einmaligem Gebrauch abhängig macht, einmal probiert habe und dann abhängig bin, ist das möglicherweise der Fall. Dann reicht Entgiftung und dauerhafte Abstinenz und alles ist wieder gut. Die Suchtkrankheit hatte dann rein körperliche Ursachen.
In der Regel ist es aber meiner Meinung nach anders herum: Ein Mensch hat ein seelisches Problem, meist ein gut verstecktes, und flüchtet sich deshalb in die Abhängigkeit. Er muss natürlich die Abstinenz erst einmal erreichen, denn nur abstinent ist er in der Lage, an sich zu arbeiten. Abstinenz reicht aber nicht: jetzt fängt die Suche nach den Ursachen, dem tieferen Grund an. Warum wollte ich mich zudröhnen? Was hat mich eigentlich dazu gebracht, ständig zu viel zu trinken oder ständig Pillen zu nehmen?
Eine Erkrankung als Symptom einer anderen
Dass eine Erkrankung selbst ein Symptom einer anderen Erkrankung ist, ist gar nicht so selten: Denken Sie nur an eine durch Alkoholismus verursachte Lebererkrankung. Die Lebererkrankung hat Symptome, zum Beispiel eine Vergiftung des Körpers, weil die Leber die Giftstoffe nicht mehr aus dem Blutstrom herausfiltern kann. Die Vergiftung muss dann zum Beispiel mit Medikamenten bekämpft werden.
Aber die Lebererkrankung ist „nur“ ein Symptom des Alkoholismus, und ihre Symptome mit Medikamenten zu bekämpfen kann nicht die Lösung sein, so wenig wie die Kopfschmerztablette gegen die ursächliche Erkältung hilft. Der Alkoholkonsum muss radikal angegangen werden, damit sich die Leber wieder erholen kann und dadurch die Vergiftung verschwindet.
Die Suche nach der Verletzung
Selbst wenn ein „trockener“ Süchtiger intellektuell und psychisch wieder dazu in der Lage ist, ist es trotzdem schwierig für ihn, auf Ursachenforschung zu gehen. Der Kampf gegen die Sucht hat Kraft gekostet, jetzt will er eigentlich ausruhen. Aber er soll jetzt weiter machen, mit einer anspruchsvollen und sehr anstrengenden Arbeit: Er soll in seiner Kindheit oder wo auch immer nach Ursachen forschen. Er soll herausfinden, was seine Seele beschädigt hat, so schlimm, dass er zu einer Bewältigungsstrategie gegriffen hat, die nichts taugt: zur Sucht. Und er muss tief schauen, denn er darf nicht die Ursache der Suchterkrankung mit ihrem Anlass verwechseln.
Den Unterschied zwischen Ursache und Anlass möchte ich an einem Beispiel klar machen. Zu Fasching wird viel Alkohol getrunken. Ist Fasching also der Grund für das Trinken? Nein, denn würde Fasching abgeschafft, fände sich ein anderer Anlass. Das Trinken würde bleiben, denn dafür gibt es so viele Gründe, wie Trinker zusammensitzen, jeder hat einen anderen.
Bei der Suche nach der Ursache ist nicht das Ziel, eine Begründung für die eigene Sucht zu suchen, um eine Ausrede zu haben. Der Suchtkranke hat die persönliche Verantwortung – nicht die Schuld – für seine Sucht zu übernehmen. Nur so kann er sich mit seinem Schicksal versöhnen, die Verletzungen heilen und Süchte überflüssig machen. Dabei muss er genau in die dunklen Abgründe abtauchen, die ihn süchtig gemacht haben. Das kommt ihm sehr gefährlich vor, und deshalb will er da nicht hin.
Das ist verständlich. Dennoch, macht er diese Arbeit nicht, ist das noch gefährlicher. Es kann zu einem Rückfall kommen oder einer Suchtverschiebung, bei der die Sucht bleibt, und nur das Suchtmittel sich ändert. Meist kann er diese Arbeit nicht alleine machen, er braucht professionelle Begleitung. Und einen langen Atem, denn sie ist langwieriger als der reine Entzug.
Die physische Abhängigkeit
Selbst, wenn der Suchtkranke seine seelischen Probleme angegangen ist und sich mit seiner Vergangenheit versöhnt hat, muss er dennoch weiterhin aufpassen: Es bleibt die körperliche Abhängigkeit, der körperliche Suchtdruck, dem er nicht nachgeben darf. Aber diesen Widerstand zu leisten wird viel einfacher, wenn er die seelischen Ursachen bearbeitet hat.
Fazit
Wir sehen also, einfach „trocken bleiben“ ist nur der erste Schritt, weitere müssen folgen. Ein Suchtkranker ist krank, nicht nur aufgrund seiner Sucht. In den allermeisten Fällen hat er ein seelisches Trauma, das er mit der Sucht zum Schweigen bringen wollte. Dieses Trauma, diese seelische Wunde ist zu bearbeiten, denn sie ist die Ursache des Symptoms „Suchterkrankung“. Gehen Sie auf die Suche! Es ist eine schwierige und harte Arbeit, und dennoch, es ist ein lohnendes Abenteuer. Sie werden danach stolz auf sich sein können. Und suchen Sie sich Hilfe – Freunde sind hilfreich und keineswegs überflüssig, reichen aber meist nicht. Sie sind zu nah.
Wenn Sie mit mir als einer neutralen Person darüber reden möchten, kontaktieren Sie mich! Ich unterstütze Sie gern bei Ihrer Suche.