Verzeihen
Man kennt das vom Spielplatz: einer der Knirpse haut dem anderen sein Schäufelchen auf den Kopf, und der brüllt. Die Mutter des ersten kommt gelaufen: „Lässt Du das wohl bleiben! Und jetzt entschuldigst Du Dich gefälligst!“ Das passiert. Und dann müssen sich die beiden noch das Händchen geben, damit alles wieder gut ist.
Hier wird ein Automatismus vorgelebt: der „Täter“ entschuldigt sich, das Opfer ist verpflichtet, ihm zu vergeben. Ich habe das auch schon anders erlebt: ein Knirps haut dem anderen auf den Kopf und bei jedem Schlag kräht er fröhlich: „Tschuldigung!“ Und als die Mutter dazwischen geht, kann er das gar nicht verstehen: „Ich hab‘ doch ‚Tschuldigung‘ gesagt!“
Das Opfer kann verzeihen, muss aber nicht
Wenn man sich entschuldigt, ist nicht alles wieder gut. Denn der Täter kann die Tat nicht verzeihen. Das kann nur das Opfer, und es ist nicht dazu verpflichtet. Es kann gute Gründe geben, dies nicht zu tun.
Einer meiner Klienten wurde als Kind von seiner Mutter gewohnheitsmäßig verprügelt. Das hatte er auch als Erwachsener nicht verwunden, er litt immer noch darunter. Seine Mutter hatte er darauf angesprochen, sie aber leugnete, ihn je geprügelt zu haben, „höchstens mal eine Ohrfeige“. Ein Freund riet ihm, das alles zu vergeben und zu vergessen: Es sei schließlich lange her, die Mutter sei inzwischen eine alte Frau, die niemandem mehr etwas zuleide tun würde.
Dieser Rat war in zweifacher Hinsicht falsch. Mein Klient konnte seiner Mutter gar nicht vergeben, denn sie hatte ihre Schuld nicht anerkannt. Und eine Verletzung zu vergessen, führt zu Verdrängung mit entsprechenden Folgeschäden. Verzeihen konnte mein Klient übrigens seiner Mutter erst, als diese tot war. Da Verzeihen eine Heilung für das Oper und nicht für den Täter ist, macht es nichts, wenn der Täter davon nichts erfährt.
Voraussetzungen für das Verzeihen
Es gibt mehrere Gründe, nicht zu verzeihen, einen haben wir gerade herausgearbeitet: Der Täter erkennt seine Schuld nicht an. Auch ein nicht ernst gemeintes: „Entschuldigung! Bist Du jetzt zufrieden?“ ist kein Grund zum Verzeihen.
Genauso wichtig ist, dass das Unrecht nicht fortbesteht: Wenn zum Beispiel ein Missbrauch weiterhin vorkommt, darf nicht verziehen werden, denn das verlängert das Unrecht noch weiter.
Und schließlich kann bei einem schweren Trauma das Opfer noch nicht bereit sein, zu verzeihen. Das ist zu respektieren.
Wer entscheidet, ob eine Verletzung stattgefunden hat?
Diese Entscheidung kann nur das Opfer fällen. Besonders perfide ist da der Spruch des Täters: „Stell Dich nicht so an, das war doch gar nicht so schlimm!“ Wie schwer eine Verletzung empfunden wird, ist Sache des Opfers. Es hängt von dessen Wertesystem und dessen Geschichte ab. Zum Beispiel wird ein Ehepartner den Fehltritt des Anderen dann kaum verkraften, wenn er als Kind unter dem ständigen Fremdgehen eines Elternteils gelitten hat. Niemand, weder Freunde noch Ehepartner, kann die Schwere der Verletzung ermessen. Denn wer beleidigt wurde – betrogen, verletzt, verleumdet – leidet mehrfach: Durch die Verletzung selbst, durch die eigenen negativen Gefühle und durch die Scham, die er als Opfer anderen gegenüber empfindet.
Was wird statt Verzeihen versucht?
Das Verzeihen ist in erster Linie Seelenpflege, von der das Opfer profitiert. Es richtet sich an das Opfer, und nicht – auch wenn es so aussieht – an den Täter. Es ermöglicht schließlich auch dem Täter, sich selbst zu vergeben, aber das ist erst in zweiter Linie wichtig. Denn wer verzeiht, kann die Kränkung hinter sich lassen. Ohne den Willen zum Verzeihen nagt das Unrecht ständig, es kann nicht verarbeitet werden.
Es gibt ungeeignete, aber oft gegangene Wege, eine Verletzung zu bewältigen:
- Rache
Die macht erwiesenermaßen unzufrieden. Der ständige Gedanke an Rache hält die Wunde offen. - Verdrängen
Das Unrecht kommt immer wieder ins Bewusstsein. Das bewirkt Reaktionen des Opfers, die für die Umwelt unverständlich und für das Opfer selbst schädlich sind. - Abspaltung
Das ist eine Verdrängung ins Unbewusste. Sie macht uns bestimmte Teile unserer Seele unzugänglich, verändert also unsere Persönlichkeit. - Flucht
Ich entferne mich vom Täter und vom Tatort. Diese Vermeidungshaltung tut aber schon bei Phobien nicht gut, weil sie diese vertieft.
Verzeihen geht nur, wenn man den Anderen und seine Beweggründe versteht.
Was ist Verzeihen?
Verzeihen ist ein Prozess, der mit einer bewussten Entscheidung beginnt. Er spielt sich im Opfer ab und muss nicht unbedingt damit enden, dem Täter bekannt zu geben, dass man ihm verziehen habe.
In diesem Prozess macht das Opfer sich des Schmerzes bewusst, ohne sich zu bemitleiden oder den Täter zu hassen. Es stellt sich dabei die Fragen:
- Was schmerzt mich genau?
Warum schmerzt es mich, liegt es an früheren Erfahrungen? - Was schuldet mir der Täter noch?
Welche Wiedergutmachung würde ich akzeptieren? - In wieweit war ich selbst beteiligt?
Diese Frage wird gestellt, ohne dem Opfer die Schuld zuzuschieben. Sie ist unzulässig bei Gewalterfahrungen und körperlichen Verletzungen. - Kam es zu einer Projektion?
Hat mich das Tun des Täters deshalb so getroffen, weil ich mich selbst wiedererkannt habe?
Verzeihen ist Schwerstarbeit, aber sie mindert auf Dauer den Stress. ES gibt dem Opfer die Möglichkeit zu agieren zurück, indem es ihm die Macht gibt, zu verzeihen.
Was ist bei Verbrechen anders?
Wenn das Opfer dem Täter eines schweren Verbrechens dessen Tat vergibt, hat er nicht nur gegen sich selbst, sondern auch gegen die Umwelt zu kämpfen. Denn die wird ihm vorwerfen: „Wie kannst Du so etwas vergeben?“ Die Umwelt vergisst dabei, dass das Opfer das Recht hat, frei zu sein, auch frei von dem, was ihm angetan wurde. Wenn es den Schmerz, die Wut und die Scham verarbeiten konnte, kann dieser Prozess mit dem Verzeihen enden.
Fazit
Wir tun einander ständig weh. Meist geschieht das unbeabsichtigt, weil wir die Erwartungen des Anderen nicht kennen. Wir haben deshalb oft allen Grund, zu Verzeihen und um Verzeihung zu bitten. Dazu müssen wir lernen, unsere Emotionen wahrzunehmen und sie zu regulieren.
Am schwersten ist es wohl, sich selbst einen Fehler zu vergeben, aber das mag das Thema eines anderen Artikels sein.