Warum sind Märchen so grausam?
Es ist schrecklich, was in Märchen passiert: alte Frauen werden verbrannt, Kinder ausgesetzt, Königinnen tanzen sich in glühenden Schuhen zu Tode, Frauen werden in genagelten Fässern den Berg heruntergerollt. Und das mutet man Kindern zu!
Zur Ehrenrettung der Märchenüberlieferung ist allerdings zu sagen, dass Märchen nicht primär, ja eigentlich überhaupt nicht, für Kinder gedacht waren. Märchen stammen aus den Spinnstuben. Früher, vor Radio, Fernsehen und Social Media, haben sich abends die Frauen und Mädchen des Dorfes in der Spinnstube getroffen, vordergründig um zu spinnen, aber auch, um sich zu entspannen. Weil das eine langweilige Tätigkeit ist, kann man dabei gut tratschen und sich Geschichten erzählen. Deshalb heißt es noch heute, wenn jemand eine unwahrscheinliche Geschichte erzählt: „Der/die spinnt!“ Aber so sind die Frauen ihre Sorgen losgeworden und die Spinnstube hat den Therapeuten ersetzt. Wenn man tagsüber spinnen musste, war man arm und musste etwas dazuverdienen, abends war Spinnen eine Erholung im Kreise der Frauen. Deshalb: „Spinnen am Morgen, Kummer und Sorgen – Spinnen am Abend, erquickend und labend!“
Sozialisierung durch Märchen
Es ging den älteren Frauen beim Spinnen auch darum, junge Frauen und Mädchen zu sozialisieren, ohne sie zu belehren, ihnen die Werte und Moralvorstellungen der Gemeinschaft nahezubringen. Genau deshalb wurden Märchen erzählt. Die Spinnstuben wurden auch von junge Männer besucht, denn hier waren ja schließlich die jungen Mädchen versammelt. Und so wurden auch für Märchen für Männer erzählt, so zum Beispiel der „Eisenhans“.
Eine Mär war eine lange Erzählung, so wie zum Beispiel das Nibelungenlied („Uns ist in alten Mären Wunders viel geseit, …“), ein Märchen also eine kleine Erzählung. Diese waren keineswegs niedlich und nett, sie mussten spannend sein, um die Zuhörer bei der Stange zu halten. Und das Böse musste am Ende drastisch bestraft werden, um den Gerechtigkeitssinn zu befriedigen. Verbrecher, das wusste jeder, wurden zur damaligen Zeit hart bestraft, jeder hatte schon bei Hinrichtungen zugeschaut. Das empfand man nicht als grausam, sondern als gerecht, und weil die Hinrichtungen öffentlich stattfanden, waren die Übeltäter passende Projektionsflächen für die eigenen kleinen und großen Vergehen und böse Phantasien. Ich habe den Verdacht, dass ein heutiger Fernseh-Krimi den gleichen Sinn hat.
Weil das Leben hart und mühsam war, boten Märchen die Möglichkeit, sich in eine andere Welt voller Prinzen und Prinzessinnen hineinzuträumen, auch als armes Aschenputtel. Kinder starben – die meisten Kinder vor ihrem 10. Lebensjahr – und so war das Aussetzen von Kindern, so grausam es ist, immer noch besser, als ihnen beim Verhungern zuzusehen.
„Sex sells“ galt auch damals, die Welt war sexistisch und das war ganz normal und akzeptiert. Aber weil in der Spinnstube auch Kinder herumsprangen, hat man Sex nur verschlüsselt angesprochen, wie der Schuh als Sinnbild der Vagina, die zu dem Prinz passt oder nicht, und das hat jede verstanden. Oder den Pelz der Allerleirauh, den sie trägt, nachdem sie in die Pubertät gekommen ist. Oder der Finger von Hänsel, der von der männerverschlingenden Hexe geprüft wird, ob er schon groß genug ist. Und auch, dass ein ekliger Frosch zum attraktiven Prinz werden kann, ist eine Erfahrung, die für ein heranwachsendes Mädchen durchaus nachvollziehbar war.
Märchen sind nie fertig
Die Märchen waren also die gesammelte Lebensweisheit der Gemeinschaft, die immer wieder umgedichtet wurden, um sie den geänderten Lebensumständen anzupassen. Auch die Gebrüder Grimm haben sie umgedichtet, um sie für die gutbürgerliche Biedermeier-Gesellschaft lesbar zu machen. Und von Disney wurden sie noch einmal verniedlicht und entsexualisiert, sodass ihre eigentlichen Aussagen heute kaum noch durchschimmern. Früher waren sie viel direkter und deftiger. Weder die Grimm-Brüder noch Disney hätten in den Spinnstuben Erfolg gehabt. Keiner hätte diese Märchen so erzählen wollen, denn die damalige Moral, um die es ja ging, ist mit diesen Derivaten kaum zu vermitteln. Aber in unsere heutige Welt passt natürlich die weichgespülte Cinderella viel besser als das alte Aschenputtel.
Sehr alte, bewährte Märchen haben sogar die Chance, zu Sagen zu werden, wie zum Beispiel die Sage von Ödipus, die leider oftmals falsch gedeutet wird, weil uns der damalige Hintergrund fehlt. Oder auch das Nibelungenlied, das Fernau genauer untersucht hat. Man müsste geradezu eine archäologische Ausgrabung der Märchen machen, um ihre ursprüngliche Fassung rekonstruieren und so verstehen zu können, wie sie damals gedacht war. Und selbstverständlich gibt es auch „harmlose“ Märchen ohne Sex und Crime, zum Beispiel die „Steinsuppe“. Aber einen tieferen Sinn, der sich erst durch Nachdenken erschließt, den haben sie alle. Sie wären sonst keine Märchen, sondern einfach nur Geschichten. Und die anderen Märchen, die Gruseln und ein bisschen Entsetzen auslösen, die wurden deshalb so erzählt, damit sie besser im Gedächtnis bleiben.
Fazit
Es lohnt sich also, sich die Märchen noch einmal genauer anzuschauen, und weil wir meist nur die Grimm’sche Fassung kennen, den biedermeierlichen Schleier zu lüften versuchen. Vielleicht können wir dann ihre Bedeutung entschlüsseln und von ihnen lernen. Denn in ihnen schlummert die Weisheit vieler Generationen.