Höhlengleichnis und Verschwörungsmythen
Der Religionswissenschaftler Michael Blume schreibt in seinem Buch „Verschwörungsmythen“ dass „arme“ Menschen, also solche, die das Höhlengleichnis Platons für wahr halten, besonders anfällig für Verschwörungsmythen seien, während „reiche“, also solche, die die Wahrheit als grundsätzlich erkennbar halten, gegen solche Gefahren gefeit seien. „Arm“ und „reich“ werden in diesem Zusammenhang der Begrifflichkeit des Philosophen Hans Blumenberg folgend benutzt.
Das Höhlengleichnis
Platon hat das Höhlengleichnis nach eigenen Angaben von seinem Lehrer Sokrates übernommen. Darin wird beschrieben, dass wir als Menschen in einer Höhle leben und die Wirklichkeit nur als Schattenspiel an der Höhlenwand sehen, die Schatten aber für die Wirklichkeit halten. Dieses Gleichnis beschreibt den erkenntnistheoretischen Ansatz des Konstruktivismus, der davon ausgeht, „dass der Beobachter die Wirklichkeit nicht erkennen kann, weil er die Sinneseindrücke erst in seinem Kopf zu seinem Bild der Wirklichkeit formt. Dabei wird das Wahrgenommene durch den Filter der Erfahrungen so modifiziert, dass es für den Beobachter verständlich wird.“ (Scherer, „Das innere System und sein Außen“)
Die Notwendigkeit einer Erlöserfigur
Laut Blume sehnt sich jeder Konstruktivist nach einem Erlöser, der ihn aus der Höhle befreit, so dass er die Wirklichkeit erkennen kann. Diese Sehnsucht führe zwangsläufig zu Verschwörungsmythen. Diese Sehnsucht führe zu einer „Tyrannophilie“, einer Sehnsucht nach einem Tyrannen, der diese erlösende Aufgabe erfüllt.
Meiner Meinung nach irrt sich Blume an dieser Stelle. Die Voraussetzung für die Sehnsucht nach einem Erlöser von der eingeschränkten Erkenntnis ist nur dann gegeben, wenn ein Mensch glaubt, dass es personalisierbare Kräfte gibt, die ihn in der Höhle halten. Diese Kräfte können andere Menschen, Teufel, Echsenmenschen, Außerirdische, das „internationale Finanzjudentum“, der „Tiefe Staat“ oder anderes sein, kurz, das personalisierte Böse. Wenn ein Konstruktivist die grundsätzliche Unmöglichkeit des Erkennens der Wahrheit durch den Menschen anerkennt, braucht er keinen Erlöser aus der Höhle, dann ist es ihm möglich, durch fortschreitenden Erkenntnisgewinn sein Wissen über die Wirklichkeit zu erweitern, auch wenn er erkennt, dass er die „wirklich wahre Wirklichkeit“ nie ganz begreifen kann.
Das personalisierte Böse
Menschen neigen dazu, dem Bösen eine greifbare Gestalt zu geben. Wenn jemand krank wird, ist eine Verfluchung durch einen anderen schuld oder es ist die Strafe Gottes für begangene Sünden. Für eine Naturkatastrophe gibt es die gleiche Begründung. Ungern wird ein Zufall als Ursache angenommen, denn wir haben im Laufe der Evolution gelernt, nach Ursachen für Ereignisse zu suchen, um so diese Ereignisse in Zukunft durch Behebung oder Verstärkung der Ursache häufiger oder seltener herbeizuführen. In der Kindheit und manchmal auch im Erwachsenenalter führt das zu magischem Denken – „ich darf nicht auf die Plattenfugen treten, sonst passiert etwas Schlimmes“.
Es hat sich eben als evolutionär sinnvoller erwiesen, hinter vielen Büschen fälschlich einen Tiger zu sehen, als einmal diesen Tiger hinter dem Busch zu übersehen. Allerdings ist es auch nicht zielführend, hinter jedem Busch einen Tiger zu sehen, denn dann läuft man entweder so lange weg, bis man vor Erschöpfung stirbt oder man brennt alle Büsche ab, um Tigern die Versteckmöglichkeit zu nehmen. Damit vernichtet man allerdings die Umwelt und beraubt sich so der eigenen Nahrungsgrundlage.
Monismus und Dualismus
Das Christentum und der Islam und viele andere Glaubensrichtungen haben erkannt, dass Menschen das Böse gerne personalisieren und bieten den Gläubigen deshalb den Teufel an. Dieser Dualismus wird vom Judentum abgelehnt, im Monismus hat ein Teufel keinen Platz, alles hat seine Ursache in Gott.
Wie aber oben bereits ausgeführt, fällt Menschen ein dualistischer Glaube leichter. Das personalisierte Böse zu bekämpfen ist einleuchtender, als nur das Gute verstärken zu wollen. Schauen wir uns die Verschwörungsmythen an, bieten auch diese immer wieder das Böse an, das man bekämpfen kann. Sie sagen aber auch, dass diejenigen, die an sie glauben, von ihrer Blindheit, in die sie von bösen Mächten gehalten werden, erlöst werden können.
Besonders gut ist das bei dem Mythos der „Flachen Erde“ zu beobachten. Die Anhänger dieses Glaubens sind der Überzeugung, dass die Wissenschaftler, die Regierungen und vor allem die NASA die Menschen seit langem über die wahre Erscheinung der Erde täuschen. Sie halten die Erde für eine Scheibe. Der Grund für die Täuschung sei entweder die Geldgier der oben genannten Interessengruppen – sie verdienen leichtes Geld, indem sie angeblich über Dinge forschen, die es nicht gibt – oder deren ausgemachte Bosheit. Weil sie nicht an Gott glauben, sind sie sowieso grundsätzlich böse, weshalb sie andere Menschen belügen müssen.
Fazit
So widersinnig und an den Haaren herbeigezogen uns Verschwörungsmythen auch vorkommen, sie werden immer wieder von einigen Menschen geglaubt werden. Sie können sogar sehr mächtig werden, denn in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts war der durch einen Verschwörungsmythos („Die Protokolle der Weisen von Zion“) genährte Antisemitismus nicht nur in Deutschland weit verbreitet. In Russland wurde er sogar zur Staatsdoktrin, hatte aber auch im restlichen Europa und in Nord- und vor allem Süd-Amerika viele Anhänger.
Wenn wir erkennen, dass wir nicht alles wissen und verstehen können und diese Erkenntnis auch verinnerlichen, sind wir gegen die meisten Verschwörungsmythen gefeit. Wenn wir aber glauben, dass uns andere von der wahren Erkenntnis abhalten, wenn wir uns also als ohnmächtiges Opfer übler Machenschaften fühlen, werden wir Heilsversprechungen hinterherlaufen. Wir werden dann auch die Menschen bekämpfen, die diesen Rattenfängern widersprechen – mit gewalttätigen Worten, aber auch zunehmend mit körperlicher Gewalt. Jemandem die Hoden zerquetschen zu wollen, das kann nur jemand, der den Anderen als nicht menschlich und als bösartig betrachtet, ohne ihm je wirklich zugehört zu haben. Vielleicht mache ich den anderen mit dieser Drohung mundtot, aber überzeugen kann ich so niemanden. Es zeigt nur, dass mir die Argumente ausgegangen sind.