Gibt es männliche Depressionen?
Die Diagnosezahlen scheinen eine eindeutige Sprache zu sprechen: Es wird bei viel mehr Frauen eine Depression diagnostiziert als bei Männern. Auch Selbstmordversuche sind bei Frauen doppelt so häufig wie bei Männern. Allerdings, „erfolgreiche“ Selbstmorde sind bei Männern doppelt so häufiger wie bei Frauen.
Es wiederholt sich also anscheinend ein Phänomen, das auch Hausärzte beobachten: Fühlen sich Frauen nicht wohl, gehen sie zum Arzt. Männer hingegen halten das für wehleidig. Nach Hilfe zu suchen, kommt ihnen wie eine Niederlage vor. Sie reißen sich also zusammen und machen weiter, bis zum Zusammenbruch.
Das Bild der Depression
Das klassische Bild der Depression ist, dass sich die Erkrankten in sich zurückziehen, Kontakte abbrechen und melancholisch werden. Das passt natürlich nicht zu richtigen Männern, die angeblich immer im Tun sind. Passives Dulden geht da gar nicht. Und so sind die Symptome einer Depression bei Männern anders als bei Frauen. Sie äußern sich bei ihnen oft in geradezu zwanghaftem Schaffen und Wutausbrüchen. Und schließlich kommt es zu einem „erfolgreichen“ Selbstmord, denn ein gescheiterter Selbstmordversuch wäre ja wieder Versagen. Und wenn es ganz schlimm kommt, begeht der männliche schwerst Depressive sogar erweiterten Selbstmord und nimmt seine Familie oder auch total Unbekannte mit in den Tod. Es hat noch niemand untersucht, wie viele der Selbstmordattentäter eigentlich an Depressionen gelitten haben, es wird immer nur auf die zweifellos vorhandene politische oder religiöse Verblendung geschaut.
Warum sind Männer so?
Das Verhalten scheint dumm zu sein, aber Männer wurden schon als Jungs dazu sozialisiert, Schmerz stoisch zu ertragen: „Ein Indianer weint nicht!“ – „Reiß Dich mal ein bisschen zusammen!“ – „Wer heult, ist eine Memme!“ – „Gefühle sind schwul!“ – „Stell Dich nicht so mädchenhaft an!“ Ihre Gefühle wurden also prinzipiell missachtet, um sie „abzuhärten“, „fürs Leben zu stählen“. Gerade in Deutschland wirkt die Nazi-Propaganda vom „Deutschen Jungen“ immer noch nach. Und was Väter nicht gelernt haben, können sie Söhnen nicht weitergeben, so vererbt sich die mangelnde Wahrnehmung eigener Gefühle.
Männliche Depressionen wurden auch deshalb von Ärzten und Psychologen lange nicht erkannt, weil die Klassifikationen psychischer Störungen wie die ICD-10 von Männern geschrieben wurden. Unbewusst haben diese postuliert, Männer seien nicht depressiv. Deshalb wurden nur weibliche Symptome aufgeführt. Heute gibt es keinen ernst zu nehmenden psychologisch Forschenden mehr, der nicht anerkennt, dass Depressionen bei Frauen und Männern nicht in etwa gleichverteilt ist. Die Wahrnehmung hat sich also verändert, aber das neue Wissen verbreitet sich nur langsam bei den psychologisch Tätigen.
Burnout, die neue Depression
Hilfreich ist, dass es heute ein Syndrom gibt, das auch Männern akzeptieren können: der sogenannte Burnout. Die meisten Praktiker definieren heute Burnout als eine Gemengelage aus Depression und generalisierter Angststörung. Burnout wird durch Überarbeitung verursacht wird – vielleicht ist es aber auch umgekehrt. Was hier Ursache und was Wirkung ist, ist unklar. Da es heute unter ehrgeizigen Männern schon fast zum guten Ton gehört, ein Burnout gehabt zu haben, denn dieser zeugt von hohem Stress durch hohe Verantwortung und schnellem Arbeitstempo, dürfen Männer also inzwischen Hilfe suchen, wenn man die Depression als Burnout versteht.
Melancholie akzeptieren
Früher war das einfacher: Melancholie war gesellschaftlich akzeptiert, Goethes „Leiden des jungen Werthers“ – die Beschreibung eines Depressiven – ein Bestseller. Akzeptanz der Melancholie hat auch ihre Vorzüge: man – auch ein Mann – kann sich zurückziehen, seine Wunden lecken und hat Zeit zur Heilung. Man darf der Nachdenklichkeit frönen, ohne ihr ein messbares Ziel zu geben.
Heute wird Traurigkeit pathologisiert und es ist als Mann schwieriger, auch nur depressiv zu sein. Einer Depression haftet der Geruch des Versagens an. Jeder hat tätig zu sein und sich anzustrengen, denn „wer lacht, hat noch ungenutzte Ressourcen“. Dabei gibt es durchaus ernstzunehmende Wissenschaftler, die nachweisen, dass Depressionen kulturgebunden sind, dass sie also nur in bestimmten Kulturen auftreten und einen gesellschaftlichen Zustand zeigen. Andere behaupten sogar, eine Depression sei keine Erkrankung, sondern ein Symptom einer dahinterliegenden Störung. Man würde also, wenn man Depressionen behandelt, nur an Symptomen herumdoktern.
„Mach-weg“-Pillen
Auch gegen Depressionen gibt es natürlich Pillen. In ernsten Fällen, vor allem wenn der Patient selbstmordgefährdet ist, oder die Ursache eine Stoffwechselerkrankung ist, ist ihre Anwendung durchaus sinnvoll. Aber nicht nur ich habe die Vermutung, dass „mothers little helpers“ viel zu schnell verschrieben werden. Sie können süchtig machen, und dann wurde der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben. Serotonin-Wiederaufnahmehemmer helfen manchmal, aber das heißt nicht, dass eine Depression von Serotoninmangel verursacht wird – genau so wenig wie die Ursache von Kopfschmerz Aspirinmangel ist.
Fazit
Depressionen sind nicht weiblich, sie zeigen sich nur beim männlichen Geschlecht anders. Natürlich hat die wenig zielführende Haltung der Männer zu Depressionen auch hormonelle Gründe. Aber so wenig, wie eine Frau durch Östrogen zur Gebärmaschine wird, muss ein Mann durch Testosteron zum tumben Barbaren werden, der mit den eigenen Gefühlen nicht klar kommt.
Wenn Sie als Mann Ängste und depressive Gefühle haben, suchen Sie rechtzeitig Hilfe. Sie werden dadurch nicht zum Versager. Und wenn Sie eine Frau sind und Ihr Mann depressiv ist, helfen Sie ihm, Hilfe zu finden. Sie können nichts tun, da muss ein Profi ran. Auch ein Coach ist bei einer echten Depression überfordert.