Narzissmus – gesund oder pathologisch? (I)
Narzissmus hat einen schlechten Ruf. Jeder ist der Meinung, dass ein Narzisst toxisch für seine Umwelt ist. Aber jeder ist Narzisst, Narzissmus ist zur Selbsterhaltung unbedingt notwendig. Ohne einen gesunden narzisstischen Anteil würde man eigene berechtigte Bedürfnisse nicht erkennen, erst gar nicht wäre man in der Lage, sie zu befriedigen. Auch der Heilige St. Martin, von dem das niemand erwarten würde, war ein Narzisst, als er seinen Mantel mit einem Bettler teilte, denn er hat dabei auch an sich gedacht. Hätte er seinen ganzen Mantel verschenkt, wäre er selbst erfroren.
Allerdings haben alle, oder zumindest fast alle Menschen auch ungesunde narzisstische Anteile, die das Zusammenleben schwierig machen können. Den Unterschied zwischen gesundem und den unterschiedlichen Arten und Abstufungen des pathologischen Narzissmus näherzubringen ist Sinn dieses Beitrags. Noch eine Bemerkung: ich beschreibe hier den Narzisst im Maskulinum, wohl wissend, dass weibliche Narzissten zwar anders, aber genauso häufig sind wie männliche.
Gesunder / pathologischer Narzissmus
Es ist schwer, den pathologischen Narzissmus zu erkennen und ihn vom gesunden zu unterscheiden. Am besten geht das, wenn man die Persönlichkeitsstruktur betrachtet, auf die sich der Narzissmus gründet.
- Gesunder Narzissmus gründet auf einer gesunden Selbststruktur mit Integration aller Persönlichkeitsanteile. Menschen mit gesundem Narzissmus werden nicht Narzissten genannt.
- Pathologischer Narzissmus gründet sich auf eine pathologische Selbststruktur, die als Abwehrstruktur gegen Frustrationen dient. Positive und negative Seiten werden abgespalten und auf äußere Personen projiziert.
Der gesunde Narzissmus
Die narzisstisch gesunde Persönlichkeit kann eigene und die Kritik anderer ertragen, sie kann sich selbst in bestimmten Aspekten kritisch sehen, ohne ihr Selbstwertgefühl grundsätzlich infrage zu stellen. Kritik ist für sie Anlass, sich selbst zu überdenken, nicht Vorwand, andere abzuwerten, um sich selbst wieder aufzuwerten. Sie idealisiert bestimmte Anteile nicht noch wertet sie andere ab und verfällt deshalb nicht in die Extreme der Selbsterniedrigung noch der Selbstüberhöhung. Sie muss keine unerwünschten Anteile ihrer selbst auf andere projizieren noch scheinbar ideal Anteile anderer inkorporieren. Dieses Verhalten ist natürlich ein hohes Ideal, das niemand ganz erreichen kann.
Der pathologische Narzissmus
Der pathologische Narzissmus hat zwei Erscheinungsformen, die sich auf den ersten Blick wesentlich unterscheiden.
- Grandioser Narzissmus versucht das Selbst über Kompetenz und Selbstwirksamkeit zu
Wer den Narzisst nicht als grandios beschreibt, wird gnadenlos bekämpft.
Der grandiose Narzisst zeigt eine abnorme Selbstidealisierung oft erkennbar an Exhibitionismus, maßlosem Anspruchsdenken und Rücksichtslosigkeit. Er Inkorporiert idealisierte Anteile anderer, dabei projiziert er eigene entwertete Anteile auf andere. Er hat das Bedürfnis, bewundert zu werden und zeigt dabei ausbeuterisches, geradezu parasitäres Verhalten. Er ist der Chef, der Verdienste seiner Mitarbeiter für sich reklamiert. Er nutzt seine Machtposition nicht dazu, übergeordnete Ziele zu erreichen oder Aufgaben zu erfüllen, er will über sie nur weitere Macht erlangen, um Bewunderung und Ehrfurcht für sich zu erfahren. Dabei umgibt er sich oft mit inkompetenten Ja-Sagern, die ihm nicht gefährlich werden können. Fähige Mitarbeiter werden weggebissen. - Vulnerabler Narzissmus versucht das Selbst über Beziehungen und Bindungen zu stabilisieren. Der Narzisst projiziert seine positiven und grandiosen Seiten auf andere und entwertet sich selbst, um von anderen aufgewertet zu werden. Er macht sich klein und ist eher passiv-aggressiv. Erfährt er die Aufwertung durch Andere nicht, kann er durchaus „switchen“ und von einem Augenblick zum nächsten zum grandiosen Narzissten werden.
Darüber hinaus ist er der geeignete Co-Narzisst zum grandiosen Narzissten. Ein stereotypes Beispiel ist die zurückhaltende, dienende Frau, die ihrem grandiosen Mann den Rücken frei hält, damit er Karriere machen kann, aber ihn sofort verlässt, wenn es zu einem Karriereknick kommt.
Beim pathologischen Narzissmus weiß man zu Beginn oft nicht, dass man es mit einem Narzissten zu tun hat, weil dieser sein Verhalten an die Umgebung anpasst. Er wurde nie aufgrund seiner Person geliebt, sondern aufgrund seiner Leistungen (gut in der Schule oder beim Sport) oder seiner Eigenschaften (schön und schlank). So hat er das entsprechende Verhalten verinnerlicht und lebt es weiter.
Beim pathologischen Narzissmus unterscheidet man drei Stufen:
- Narzisstische Persönlichkeitsstörung ist eine fast unauffällige Störung, die beinah alltäglich daherkommt und nur in Ausnahmefällen wirklich aus dem Ruder läuft.
- Maligner Narzissmus ist eine schwerere narzisstische Persönlichkeitsstörung mit antisozialen Tendenzen und sadistischem Verhalten gegen sich und andere.
- Antisozialer Narzissmus ist, auch wenn man das kaum für möglich hält, eine Steigerung des malignen Narzissmus. Viele antisoziale Narzissten werden kriminell. Sie sind nur schwer von Soziopaten zu unterscheiden.
Bindung und Narzissmus
Eine häufige Ursache des pathologischen Narzissmus ist eine mangelhafte Bindung zu den Bezugspersonen – meist den Eltern – in der Kindheit, durch die die Anerkennung als Person gestört wurde.
Man unterscheidet zwischen vier Bindungstypen:
- sicher-autonom
Die Eltern lassen Nähe zu, geben dem Kind aber auch die Möglichkeit, selbstständig zu handeln.
Die Schilderung der Lebensgeschichte ist kohärent (d.h. in sich stimmig).
Die Bindung an die Eltern wird wertgeschätzt. - unsicher-vermeidend
Die Eltern zeigen Angst vor Nähe, das Kind zeigt eine Schein-Autonomie.
Die Schilderung der Lebensgeschichte ist inkohärent, insofern es zu einer Idealisierung der Bezugspersonen kommt, zu fehlenden Erinnerungen an die Kindheit und zu einer (berechtigten) Abwertung der Bindung. - unsicher-ambivalent
Die Eltern sind unberechenbar in ihrem Bindungsverhalten, das Kind kämpft um ihre Aufmerksamkeit und sein Fokus ist ständig bei den Eltern, um ihre Stimmung zu erahnen.
Die Schilderung der Lebensgeschichte ist inkohärent.
Es werden irrelevante Details aus der Kindheit genannt, die Bindung wird widersprüchlich zur Wirklichkeit geschildert, Ärger über die mangelhafte Bindung wird geäußert. - unsicher-desorganisiert
Dieser Bindungstyp entsteht bei schwer traumatisierten oder depressiven Eltern. Das Kind braucht, wie jedes andere auch, die Eltern, muss sich aber gleichzeitig vor ihnen schützen.
Die Schilderung der Lebensgeschichte ist inkohärent durch sprachliche Auffälligkeiten bei der Schilderung traumatischer Kindheitserfahrungen.
Pathologischer Narzissmus kann aus allen drei unsicheren Bindungen entstehen.
Narzisstische Kränkung und Bestätigung
Jeder Mensch kann sich narzisstisch gekränkt fühlen durch Demütigungen, Bloßstellungen, Herabwürdigungen, Entwertungen und Erniedrigungen durch andere. Das kann bei jedem zu
Angst, Scham, Frustration, Wut und Rachegedanken führen. Man sollte sich über diesen Mechanismus im Klaren sein, um ihn vermeiden zu können.
Die narzisstische Bestätigung ist der übermäßige Zuspruch und die Bewunderung, die der Narzisst für die Aufrechterhaltung seines Selbstwerts benötigt. Die erhält er durch co-narzisstische Bezugspersonen, die meist vulnerablen Narzissmus zeigen, oder Bewunderer, meist inkompetente Menschen. Die Rollen können aber auch schnell switchen, dann wird der vulnerable schlagartig zum grandiosen Narzissten.
Im nächsten Blog geht es um die Auswirkungen des Narzissmus und um den Umgang mit ihm.