Neugier oder Entdeckerfreude?
Neugier hat einen schlechten Ruf in Deutschland. Man hat sofort das Bild eines Voyeurs vor Augen, eines Spanners, der seine Mitmenschen ausspäht und dann Klatsch und Tratsch über sie verbreitet. Ich glaube, dieses Bild hat etwas damit zu tun, dass in „Neugier“ das Wort „Gier“ enthalten ist. Und Gier ist immer etwas Schlechtes, gehört sie doch zu den sieben Todsünden.
Ist ein Forscher neugierig?
Jeder Forscher möchte Neues entdecken, in diesem Sinne ist er neugierig. Als Wissenschaftler darf man also neugierig sein, vor allem auf wissenschaftliche Phänomene. Das wird akzeptiert und als etwas Gutes angesehen. Aber wenn man neugierig auf andere Menschen ist, dann gilt man leicht als voyeuristisch. Und das ist schlecht.
Dummerweise gibt es aber Wissenschaftler, die über Menschen forschen und deshalb neugierig auf diese sein müssen. Beispiele sind Psychologen, Sozialwissenschaftler, Ethnologen oder Anthropologen. Diese Berufe haben aber eine Begründung für ihre Neugier auf Menschen, denn ihnen wird wissenschaftliches Interesse zugestanden.
Und es gibt Leute, die an anderen Menschen interessiert sind, die gerne andere Leute kennenlernen und sich mit ihnen beschäftigen. Sie sind an deren Ansichten interessiert und möchten Neues erfahren, somit sind sie auch „neugierig“. Vielleicht sollten wir über solche Leute lieber sagen, dass sie Freude am Entdecken haben, dann vermeiden wir das „Geschmäckle“, das das Wortes Neugier hat.
Entdeckerfreude und Entdeckerfrust
Wir sind uns also einig: Entdeckerfreude ist für alle Menschen akzeptabel. Sie bringt den Einzelnen voran, und, wenn das, was er entdeckt hat, neu und wichtig ist, vielleicht sogar die ganze Menschheit. Ohne Entdeckerfreude würden wir heute noch auf Bäumen sitzen und Früchte mümmeln. Außerdem macht Entdecken Spaß, eine Entdeckung bringt unser Belohnungssystem in Schwung. Nicht umsonst texten die Werbemenschen: „Entdecken Sie jetzt das neue xyz!“ Sie verknüpfen so den Kauf eines Produkts mit einer Endorphin-Ausschüttung.
Wenn allerdings alle Menschen nur noch damit beschäftigt wären, Neues zu entdecken, bliebe das Alltägliche, Altbekannte aber Notwendige ungetan. Das zu leisten, ist zwar mehr Transpiration als Inspiration, doch wir alle müssen diese Arbeit leisten. Wir brauchen ja nicht nur das Salz in der Suppe, sondern auch die Suppe selbst.
Vielleicht macht deshalb Entdecken nicht nur Freude, sondern bringt auch Frust mit sich. Wenn wir etwas Neues entdeckt haben, können wir weiter schauen, und wir sehen dann, dass sich durch das Neue auch viele neue Fragen auftun. Wir merken also, wie viel es noch zu entdecken gilt, denn jede neue Entdeckung bringt viele neue Fragen mit sich, und das frustriert. Wir hätten gerne einfache, schnell zu verstehende Antworten und nicht zu jedem gelösten Rätsel hundert neue Fragen. Dennoch brauchen wir die Entdeckerfreude, denn man muss vieles wissen, um zu erkennen, was man nicht weiß. Einfache Antworten passen nicht zu unserer komplexen Welt, und je komplexer die Modelle werden, mit denen wir die Welt zu erklären versuchen, desto schwerer sind sie zu begreifen. Die Modelle, die die Kenntnisse über die Physik des 18. Jahrhunderts beschrieben haben, sind einfach zu verstehen, aber wer versteht die Modelle, die die moderne Quantenphysik oder den Zusammenhang zwischen Raum und Zeit beschreiben? Trotzdem haben sie Einfluss auf unser alltägliches Leben, denn ohne sie würden noch nicht einmal unsere Navigationsgeräte funktionieren.
Wenn Neues nervt
Neue Erkenntnisse führen außerdem zu Unsicherheit, weil sie die eigenen, altbekannten und durchaus bewährten Ansichten in Zweifel zieht. Sich ständig umorientieren zu müssen, führt langfristig zur Erschöpfung. Und so gibt es heute eine neue Wissenschaftsfeindlichkeit, gewinnen die absurdesten Behauptungen an Boden. Denn inzwischen ist vieles, was uns die Entdeckerfreude gebracht hat, für den berühmten „Mann auf der Straße“ nicht mehr verständlich. Und so fängt dieser an, Menschen und Theorien nachzulaufen, die scheinbar einfache, schlüssige Erklärungen liefern.
Aber es bringt uns nicht weiter, zum Beispiel ein Buch wörtlich zu nehmen, das einem Hirtenvolk in der Bronzezeit die Welt erklärt hat. Denn auch wenn dieses Buch den Schreibern von Gott in die Feder diktiert wurde, hat der sich bestimmt so ausgedrückt, dass die damaligen Menschen ihn verstanden haben. Wie gesagt, die Bibel mag richtig sein, aber sie benutzt ein von den Menschen der damaligen Zeit verständliches Modell. Das ist einfach zu verstehen, leider erklärt es aber nicht die neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse. Wir haben inzwischen erkannt, dass die Welt komplexer ist, als es sich Menschen vorstellen können. Diese Komplexität und die damit einhergehenden komplexen Erklärungsmodelle schrecken viele Menschen ab, und so können neue Entdeckungen auch dazu führen, dass sie radikal und leidenschaftlich abgelehnt werden.
Wenn Neugier zur Gier wird
Wenn Neugier wirklich Gier ist, wenn man also ständig Neues ausprobieren muss, wenn man eine riskante Lebensweise führt, nur weil es sonst langweilig wird, oder man Angst hat, etwas zu verpassen, dann wird es Zeit, seine Einstellung zu ändern. Denn so wie es nicht gut ist, alles Neue abzulehnen und neue Gedanken zu verdammen, nur weil sie neu sind, ist es auch nicht gut, alles abzulehnen, was alt ist. Manches Alte ist nämlich auch altbewährt und es lohnt sich, dies noch einmal anzuschauen.
Denn die Angst, etwas zu verpassen – auf Neudeutsch FoMO = Fear of Missing Out – kann zu Stress führen, weil wir dann nie mit etwas Gewohntem zufrieden sind. Außerdem ist es uns gar nicht möglich, nichts zu verpassen, denn es gibt so viel Neues, dass wir unmöglich in jedem Aspekt auf dem Laufenden bleiben können. Wenn wir das versuchen, führt das nur zu Frust.
Gewohntes hat außerdem den Vorteil, dass wir es tun oder denken können, ohne uns sonderlich anzustrengen. Denken Sie ans Fahrradfahren: Zu Beginn war das ungeheuer anstrengend, wir sind ständig umgekippt, heute aber geht das automatisch und erfordert wenig Konzentration auf das Halten der Balance. Manchmal sollten wir also auch Freude daran haben, etwas zu verpassen – also JoMO = Joy of Missing Out – allerdings erfordert das den Mut, fröhlich zuzugeben, dass wir von einer Sache, die angeblich jedem bekannt ist, keine Ahnung haben.
Fazit
Neues bringt die Menschheit vielleicht weiter, es muss sich aber erst noch beweisen. Neues ist das Salz in der Suppe, aber Salz ohne Suppe ist schädlich. Auch Altes muss immer wieder auf den Prüfstand gestellt werden. Es ist wie überall: auf die Menge kommt es an.