Psychische Störungen – störend oder sinnvoll?
Von der Norm abweichende Verhalten von Menschen werden als unangemessen betrachtet und zumeist als Störung empfunden. Wie bei einer physischen Störung – also zum Beispiel einer Herzrhythmusstörung – wird gefordert, auch die psychische Störung zu beheben. Aber ist eine psychische Störung wirklich eine Störung oder wird sie nur von Gesellschaft und Wirtschaft als solche empfunden, weil sie den gewohnten Ablauf stört?
Die Definition von Störungen
In der internationalen Bibel der Psychotherapie (ICD -10/F), werden die psychischen Abweichungen von der Norm akribisch als Störungen klassifiziert. Wenn man sich allerdings die Entwicklung dieses Buchs ansieht, erkennt man die Änderungen im Lauf der Jahre. Früher wurde Homosexualität als Störung definiert, heute wird es als Verhalten gesehen, das innerhalb der Bandbreite der menschlichen Sexualität liegt. Früher gab es laut ICD kein ADHS, höchstens eine Verhaltensauffälligkeit von Schülern, heute ist Ritalin ein gut verkauftes Psychopharmakon. So ändern sich die Definitionen von Störungen, je nach Änderungen in der Auffassung der Gesellschaft.
Wenn ich etwas als Störung bezeichne, sage ich damit implizit auch, dass dieses Verhalten geändert werden sollte. Aber ist das wirklich notwendig? Und wenn ja, in welchen Fällen? In der amerikanischen Klassifikation, der DSM-5, wird die angemessene Dauer der Trauer beim Tod eines geliebten Menschen auf wenige Tage begrenzt, was darüber hinausgeht, wird als depressive Störung diagnostiziert. Diese gilt es zu bekämpfen, weil sie den Ablauf der Wirtschaft stört. Ein trauernder Mensch ist nicht so leistungsfähig wie gefordert, und dafür gibt es Medikamente, die die Stimmung aufhellen. Wir können froh sein, dass in Deutschland immer noch vom Trauerjahr gesprochen wird. Den Trauernden wird also zugestanden, ein Jahr zu trauern, ohne dass sie als psychisch gestört gelten.
Abweichende Verhalten sind einleuchtend
Auch wenn wir manchmal einen gegenteiligen Eindruck bekommen könnten, ist das Verhalten von Menschen aus deren Sicht durchaus sinnvoll. Die Beurteilung des Verhaltens eines Menschen hat immer auch den Kontext seines Handelns zu berücksichtigen. Wenn sich ein Mann die Zehen abhackt und diese dann auch noch isst, sieht das auf den ersten Blick nach einer hochgradig paranoiden Störung aus. Jeder Arzt würde dieses selbstverletzende Verhalten sofort mit hochdosierten Medikamenten angehen. Weiß man aber, dass dieser Mann, ein Inuit, in einen tagelangen Schneesturm gekommen ist, seine Zehen erfroren sind und er fast verhungert ist, erkennt man, dass sein Verhalten hoch funktional ist. Er wird nie wieder gut gehen können, aber er hat die Chance, zu überleben.
„Warum“ und „Wofür“
Sollte man also bei einem gestört scheinenden Verhalten immer nach dem Grund fragen? Das hat sich nicht als zielführend erwiesen, denn es befriedigt nur unsere intellektuelle Neugier. Es hilft dem Betroffenen in der Regel nicht, zu wissen, woher sein Verhalten kommt. Viel hilfreicher ist es für ihn zu wissen, was sein Unterbewusstsein damit bezweckt, ihn zu diesem Verhalten zu bringen.
Also sollte man nicht die Frage nach dem Warum stellen, denn diese führt in die Vergangenheit. Besser ist es, nach dem Wofür zu fragen, denn diese Frage führt zum beabsichtigten Zweck, also in die Zukunft.
Es gibt viele Menschen, die den Grund ihres dysfunktionalen Verhaltens genau kennen – zum Beispiel ein Erlebnis aus der Kindheit. Trotzdem können sie dieses Verhalten nicht ändern. Erst wenn sie wissen, was ihr Unterbewusstes damit bezweckt, sie zu dem von ihrem Bewusstsein unerwünschten Verhalten zu zwingen, können sie dieses Ziel ändern. Dann kann sich auch das Verhalten ändern.
Die Störung als Anpassung
Das als Störung angesehene Verhalten ist also nichts anderes als eine Anpassungsreaktion auf schädigende Umstände. Nicht der Mensch ist gestört, sondern die Umstände, unter denen er ein solches Verhalten entwickelt hat.
Für diese Auffassung spricht auch, dass zum Beispiel trotz zunehmenden Konsums von Antidepressiva die Rate der sogenannten depressiven Störungen nicht zurückgegangen ist. Auch wirken Placebos bei ihnen fast genauso gut wie echte Medikamente. Wir sollten bedenken, dass eine depressive Störung uns eigentlich nicht schaden will. Sie ist ein erlerntes Verhalten, das uns helfen will, unsere Aufmerksamkeit auf unerträgliche Zustände zu lenken und diese abzustellen. Ähnlich einem körperlichen Schmerz zeigt ein seelischer, was nicht in Ordnung ist. Ich kann nicht oft genug wiederholen, hier die Frage nach dem Wozu zu stellen.
Wir sollten an dieser Stelle sorgfältig unterscheiden, ob ein Klient eine medizinische Störung des Gehirns hat, die zu einer schweren Depression führt und nur medikamentös behandelt werden kann, oder ob „nur“ eine depressive Störung vorliegt, also ein Verhalten, das der Klient ändern kann oder mit dem er lernen kann, umzugehen. Das Verständnis und die Akzeptanz der Gesellschaft hilft dabei, und so ist die Bezeichnung eine wesentliche Möglichkeit, den unerwünschten Zustand zu ändern.
ADHS
Menschen haben eine große Bandbreite an Verhaltensweisen, die wir insgesamt als normal bezeichnen sollten. Eine Gesellschaft legt allerdings fest, dass nicht die gesamte Bandbreite wünschenswert ist, sondern nur ein von ihr definiertes Optimum. Menschen, die in ihrem Verhalten nicht dem geforderten Optimum nahe kommen, werden gern als „gestört“, mindestens aber als „Störenfriede“ bezeichnet. ADHS ist ein Beispiel dafür, es wird als eine Störung angesehen, obwohl es meist nur das Fehlen einer kindgerechten Gelegenheit zum Auszuleben des Bewegungsdrangs ist.
Auch Kinder haben, wie alle Menschen, eine ganze Bandbreite von Verhalten. Die einen betrachten Details und versenken sich in Einzelheiten, die anderen haben ein weites Blickfeld, in dem sie alles um sich herum wahrnehmen. Sie können sich deshalb nicht auf Einzelheiten fokussieren, sind aber gut darin, alles im Blick zu behalten und nichts zu übersehen. In Elternhaus, Schule und bei Arbeitgebern sind natürlich erstere beliebter, denn sie liefern messbare Ergebnisse, indem sie fleißige Detailarbeit leisten.
Beobachtungen haben gezeigt, dass in Ländern, in denen Pausen in den Schulalltag integriert sind, um dem Bewegungsdrang der Kinder entgegenzukommen, Kinder eine niedrigere ADHS-Quote haben als andere. Vielleicht sollte man die Umgebung an die Menschen anpassen und nicht die Menschen in ein Korsett zu zwingen suchen, aus dem sie eines Tages ausbrechen wollen, ja sogar müssen, und so störend werden.
Fazit
Wir sollten aufhören, Abweichungen von der gesellschaftlich geforderten Norm als „Störung“ zu begreifen, sondern sie als eine mögliche Ausprägung der menschlichen Vielfalt zu sehen.
Weiterhin ist jedes Verhalten eines Menschen, auch wenn es gerade nicht zielführend ist, aus seiner Sicht als durchaus sinnvoll zu betrachten. Es ist eine erlernte Anpassung an eine schwierige Situation, meist aus der Kindheit, die heute nicht mehr passt, da sich die Situation geändert hat. Bei der Betrachtung des Verhaltens sollten wir nicht nach dem Warum fragen, sondern nach dem Wofür. Wir sollten also dem Menschen helfen, zu erforschen, was ihr Unterbewusstsein mit diesem Verhalten eigentlich erreichen will bzw. in der Vergangenheit erreichen wollte. Das ist nicht einfach, da das Ziel eines „gestörten“ Verhaltens oft tief im Unterbewusstsein versteckt ist. Doch gibt es Techniken, die unterbewussten Ziele zu ergründen, neuer, angemessene Ziele zu verankern und so das Verhalten zu ändern.