Vererbte Traumata I
Bei Arte wurde am 2.9.17 die Sendung „Vererbte Narben“ gezeigt, bei der es um generationsübergreifende Traumata ging. Ich fand den Titel nicht besonders gut, denn Narben sind Spuren verheilter Wunden. Hier ging es aber um Wunden, die nicht verheilt sind, sondern unversorgt vor sich hin eitern und deren Träger vergiften.
Krieg und Missbrauch
Die schlimmsten Traumata sind solche, die ein Krieg schlägt, und zwar sowohl bei Opfern als auch bei Tätern, und Traumata aufgrund von Missbrauch. Dabei kann der Missbrauch sowohl von Familienmitgliedern oder Freunden der Familie als auch von Fremden begangen werden. Diese Traumata werden vererbt, das ist inzwischen nachgewiesen – nicht nur an die nächste, sondern sogar an die Enkelgeneration. Die Weitergabe erfolgt zum einen als Gefühlserbschaft. Der Traumatisierte braucht seinen Kindern nichts über sein Trauma erzählen, sie spüren das an unwillkürlichen Reaktionen. So wird es nonverbal weitergegeben. Kinder wissen, dass es ein dunkles, schreckliches Geheimnis gibt, über das man nicht sprechen darf. Und da die Traumatisierten – seien sie nun Opfer oder Täter – schweigen, stellen die Nachkommen ihre eigenen Bedürfnisse zurück und übernehmen die Last, um ihre Eltern zu entlasten. All das passiert natürlich unbewusst, trotzdem entwickeln die Kinder unerklärliche Symptome. Beispiele gibt es genug:
- Ich kann mich erinnern, als Kind panische Angst vor Sirenen gehabt zu haben, bevor ich wusste, was sie bedeuten können. Die Sirene, die bei uns zu hören war, zeigte Arbeitsbeginn und –ende einer Fabrik an, also kein Grund für Ängste. Aber meine Mutter hatte, wie ich sehr viel später erfuhr, als Kind in Köln die Bombennächte mitgemacht. Erst als mir das klar wurde und ich die Bedeutung ihrer Erlebnisse verstand, konnte ich die Angst vor Sirenen ablegen. Noch heute mag ich ihren Ton nicht, aber ich bekomme keine Panik mehr, wenn eine losgeht.
- Kinder, sogar Enkel von KZ-Opfern hatten und haben Alpträume von KZ-Situationen, obwohl ihre Eltern den Schrecken jener Zeit in ihrem Herzen verschlossen hatten und nie darüber gesprochen hatten. Die Kinder konnten also nichts über die KZ-Erlebnisse wissen, trotzdem waren da diese Alpträume, die sie die Erlebnisse der Eltern wieder und wieder erleben ließen. Wie diese Erlebnisse auf die Kinder übertragen werden konnten, ist bis heute unklar. Passiert diese Übertragung über die Eltern oder über die Schicksalsgemeinschaft?
Epigenetische Weitergabe
Es ist inzwischen geklärt ist, und zwar mithilfe von Versuchen an Mäusen, dass es die epigenetische Vererbung von Erlebnissen gibt. Im Zuge der genetischen Vererbung werden Anlagen weitergegeben, hier braucht es viele Generationen, bis sich eine neue Eigenschaft durchsetzt. Die epigenetische Vererbung hingegen erfolgt innerhalb einer Generation und schwächt sich dann mit jeder weiteren ab. Sie gibt Schalterstellungen innerhalb der DNA weiter, die die eigentlichen Gene aktiviert oder deaktiviert. Das klassische und inzwischen gut nachgewiesene Beispiel sind Hungersnöte, die sich auf die Lebenserwartung der Kinder und Enkel auswirken, auch wenn diese keine Hungersnot erlebt haben. Man glaubt, dass auch Hyperaktivismus eine Folge transgenerationaler Umwelteinflüsse zu sein könnte.
Vererbung von Stress-Schäden
Kinder und Enkel gestresster Mäuse-Mütter entwickeln typische Veränderungen im Gehirn – ihre Fähigkeit zur Informationsübertragung wird reduziert. Und auch Mäuse-Väter haben einen ähnlichen Einfluss. Auch diese können die Gehirnveränderungen vererben, selbst wenn sie mit der Mutter nur zur Zeugung und mit den Kindern überhaupt nicht in Kontakt gekommen sind. Allerdings scheint es ca. 14 Tage zu dauern, bis die Information über den Stress in den Keimbahnen angekommen ist. Mäusemütter, die gestresst werden und dann sofort befruchtet, entwickeln ungeschädigte Kinder.
Man weiß darüber hinaus inzwischen auch, dass sich psychische Belastungen der Mutter während der Schwangerschaft auf den Embryo auswirken. Der Schrecken der Mutter überträgt sich also durchaus auf das Kind, auch wenn man das früher als Ammenmärchen abgetan hat.
Zusätzlich kommt es beim Menschen noch zu Übertragungen ideologischer und anderer bewusster und unbewusster innerfamiliärer Informationen. Das wird von den Psychologen seit langem mit zwei Begriffen bezeichnet: Als Scripte, die nonverbal und unbewusst, und Glaubenssätze, die verbal weitergegeben werden.
Drei Vererbungswege
Man kann also sagen, dass es drei Wege gibt, auf denen Traumata vererbt werden können:
- Auf körperlicher Ebene über epigenetische Mechanismen.
- Auf geistiger Ebene verbal über Glaubenssätze und nonverbal über Skripte.
- Und schließlich noch über einen bisher unbekannten, auf jeden Fall unbewussten Weg, auf dem z.B. der Inhalt von Alpträumen und Ängsten vererbt wird.
All diese Mechanismen vererben Traumata nicht bleibend. Nach spätestens zwei oder drei Generationen machen sich die Traumata nicht mehr bemerkbar.
Wichtig zu wissen ist auch, dass nicht jedes traumatische Erlebnis zu einem Trauma führen muss. Es gibt auch traumatische Situationen, die bei einem bestimmten Mensch in einer bestimmten Situation wirkungslos, ja aufgrund eines posttraumatischen Wachstums sogar hilfreich sein können. Es ist also ausgesprochen kontraproduktiv, einem Klienten eine Schädigung einzureden, nur weil der Therapeut diese als traumatisch empfindet. Das Vorgehen bei vermuteten Traumata muss also genau abgewägt werden. Wir reden hier allerdings nur über Ereignisse, die eindeutig zu Traumata geführt haben.
Erkrankungen aufgrund generationsübergreifender Traumata
Für diese Nachkommen gehen die Vererbungen von Traumata mit seelischen Einschränkungen und physischen und psychosomatischen Krankheiten einher. Denn die Schreckenserlebnisse werden ständig neu inszeniert und führen auf seelischer Ebene zu:
- unerklärlichen Ängsten
- quälender innerer Leere
- bleiernen Schuldgefühlen
- Bindungs- und Beziehungsstörungen
- Alpträumen
Und auf körperlicher Ebene zu einem erhöhten Risiko, das sich sogar auf die Kinder vererben kann:
- Bluthochdruck
- Herzinfarkt
- Diabetes
- Krebs
Im nächsten Artikel geht es weiter!