Vererbte Traumata II
Dieser Artikel ist die Fortsetzung von „Vererbte Traumata I„
Was ist zu tun?
Unversorgte Seelenwunden kosten den Traumatisierten selbst viel Lebenswille. Er wird sich und anderen zur Last fallen, wird die Wunden an seine Nachkommen weitergeben. Die Gesellschaft zahlt die Zeche, wenn sie sich aufgrund falsch verstandener Sparsamkeit oder kollektivem Scham auf die Behandlung von Traumata verzichtet.
Versuche an Mäusen zeigen, dass die epigenetischen Auswirkungen durch eine stressfreie Umgebung der Nachkommenschaft weitestgehend rückgängig gemacht werden kann. Stressfrei bedeutet hier nicht ganz ohne jede Belastung, sondern mit „gesundem“ Stress, der sich auf kurze, beherrschbare Episoden beschränkt. Dieser Stress stärkt, denn er erhöht die Stress-Resilienz. Resilienz ist erlernbar und auf epigenetischem Weg wohl auch vererbbar.
Das Trauma hat besonders dann schlimme Auswirkungen, wenn es totgeschwiegen wird. Das Ungesagte, das, wo niemand hinschaut, ist schlimmer als das, was ausgesprochen wird. So sind viele der heute Lebenden Betroffene, denn sie sind Kriegskinder oder Kriegsenkel. Und die meisten Eltern haben nie mit Ihnen über ihre traumatisierenden Kriegserlebnisse gesprochen, entweder weil sie sich selbst schonen wollten und die Erlebnisse verdrängten, oder weil sie aus falsch verstandener Rücksichtnahme die Kinder nicht belasten wollten. Wenn die Kriegsgeneration noch lebt, sollte man sie fragen, denn das, was ausgesprochen wird, verliert seinen Schrecken. Man merkt Menschen, die im Alter unvermittelt über ihre Traumata berichten, die Erleichterung häufig an. Und auch die nachfolgenden Generationen werden entlastet, weil das Verhalten der Älteren mit einmal erklärbar wird.
Lebt die Kriegsgeneration sie nicht mehr, gibt es genug andere Quellen, sich über das von den Eltern oder Großeltern erlebte vorstellbar zu machen. Dabei sollte man auch und besonders dann hinschauen, wenn die Vorfahren sich als Täter schuldig gemacht haben, denn auch dieser Umstand erzeugt ein transgenerationales Trauma. Nicht nur die Kinder und Enkel nicht nur der NS-Opfer leiden, sondern auch die der NS-Täter.
Eine traumafreie Generation?
Dass die Kinder und Enkel unter dem Schweigen gelitten haben, erkennt man an den heftigen Ablösungsprozessen, die in der Nachkriegszeit stattgefunden haben: Rock’n‘ Roll, Beat, 68’er, Punk, … Die Urenkelgeneration, also die in diesem Jahrtausend geborenen, sind die ersten seit Jahrhunderten, vielleicht die ersten überhaupt, die die dritte Friedensgeneration in Folge sind. Vielleicht sind deshalb bei ihnen die pubertären Ablösungsprozesse weniger stark. Aber auch bei ihnen gibt es Väter, die die Freiheit Deutschlands am Hindukusch verteidigen. Das Thema lässt uns also nicht los.
Trauma durch Missbrauch
Schließlich gibt es nicht nur die über Krieg und Terror Traumatisierten, sondern auch die als Kind und im Erwachsenenleben Missbrauchten. Ich erinnere mich gut an meine Großtante, die während der Eroberung Berlins als junge Frau dort war. Keiner, auch nicht sie selbst, hat je darüber gesprochen. Keiner weiß, wie sie überlebt hat und ob und wie vielen russischen Soldaten sie in die Hände gefallen ist. Aber man sah ihr vieles nach, sie galt in der Familie als „hysterisch“. Man ertrug ihr exaltiertes Benehmen, ohne je darüber zu sprechen. Die Wunde ist nie ausgeheilt.
Die meisten Missbräuche werden allerdings von Familienmitgliedern oder engen Freunden begangen. Häufig gibt es in einer Familie eine Tradition des Missbrauchs, weil sich missbrauchte Kinder unbewusst einen Partner suchen, der entweder selbst die eigenen Kinder missbraucht oder den Missbrauch zulässt, weil er oder sie zu schwach ist, das Kind zu schützen. Dazu kommt, dass missbrauchte Kinder oft zu missbrauchenden Eltern werden. So werden alte Wunden offen gehalten und neue gerissen. Sie fordern Heilung, doch niemand schaut hin.
Die Tradition kann man nur durchbrechen, indem Missbrauch offengelegt und bearbeitet wird. Leider wird aber derjenige, der ein solches Familiengeheimnis öffentlich macht, vom Rest der Familie „weggebissen“. Er oder sie wird nicht ernst genommen, als Spinner oder Verleumder bezeichnet und zur Persona non grata erklärt. So perpetuiert eine Familie ihre Traumata, zwar unbewusst, aber deshalb nicht weniger wirksam.
Ein Missbrauch wird auch oft so weit verdrängt, dass sich die Beteiligten nicht mehr erinnern können. Das trifft sowohl für die Opfer, als auch, wenn auch seltener, für die Täter zu. Es gibt sogar den Fall, dass ein Kind, obwohl selbst nicht missbraucht, den erlittenen Missbrauch eines Elternteils aufdeckt, ja sogar wie den eigenen erlebt. Es ist dann schwierig zu entscheiden, ob das Missbrauchserlebnis selbst erlebt oder nur übertragen wurde.
Um mit einem alten Vorurteil aufzuräumen: nicht nur Mädchen sind Opfer und nicht nur Männer sind Täter. Denn Missbrauch ist nicht nur eine Penetration, Missbrauch ist jede übergriffige Handlung, die einen Schutzbefohlenen an der eigenen Entfaltung hindert. Das kann auch das Ausleben sadistischer Triebe durch Misshandlung oder das Überbehüten eines Kindes aufgrund von Eifersucht sein. Immer, wenn eine Handlung an einem Schutzbefohlenen nicht aus Sorge für diesen, sondern aus eigenem, egoistischem Interesse vorgenommen wird, ist dies ein Missbrauch und führt zu einem Trauma. Denn ein Kind kann sehr wohl unterscheiden, aus welchem Motiv heraus eine Handlung vorgenommen wird.
Fazit
Kinder sind als ganze Personen zu sehen, die aufgrund ihrer Sensibilität und ihrer genauen Beobachtung ihrer Eltern sehr gut merken, wenn Ihnen etwas verschwiegen wird. Man kann ihnen einiges zumuten, sie ertragen eine offene, aber altersgerechte Schilderung eher als das ständige verstecken eines dunklen, unheimlichen Geheimnisses.
Unterschätzen Sie Kinder nicht! Sie ertragen und verstehen mehr, als Sie ihnen zutrauen. Offenheit aller Beteiligten treibt eine Familie nicht auseinander, sondern führt sie zusammen. Das Ansprechen von Traumata mag Stress erzeugen, aber dieser dauert nur kurz an. Er ist „gesunder“ Stress, der sogar die Resilienz der Beteiligten erhöht. Und wenn Sie über ein Trauma zu wenig wissen, weil es verschwiegen wurde und die Beteiligten nichts darüber sagen können oder wollen, hilft oft eine Aufstellung.
In diesem Sinne: Betrachten Sie die Wunde, öffnen Sie sie und lassen Sie den Eiter herausfließen. Sonst erzeugt dieser eine Blutvergiftung, die die ganze Familie erkranken lässt. Und wenn die Wunde sauber ist, aber erst dann, dürfen Sie sie verbinden. Sie wird heilen, und Sie mit ihr.