Kinder eines narzisstischen Elter II
(Fortsetzung des 1. Teils)
Ich benutze in diesem Text den Fachausdruck „das Elter“, also Eltern im Singular und Neutrum. Damit ist Vater oder Mutter gemeint, denn in den allermeisten Fällen ist nur ein Elternteil narzisstisch, weil Narzissten keinen anderen Narzissten neben sich dulden können.
Narzisstische Familien im Außenverhältnis
Das Kind eines Narzissten hat, wie bereits weiter oben erwähnt, eine Erweiterung des Selbst dieses Elters zu sein. Deshalb muss es vor allem in der Öffentlichkeit einwandfrei funktionieren, es darf keine Fehler (Fehler aus Sicht des Elters) machen und das Elter nicht „blamieren“. Damit das Kind in der Öffentlichkeit so vorgeführt werden kann, muss es sich immer tadellos verhalten. Tut es das nicht, führt das zu schweren Strafen. So muss ein Kind, das z. B. in der Kirche geschwätzt hat, vor allen Leuten bestraft werden, denn „es hat mich ja auch mit Absicht vor allen Leuten bloß gestellt“.
Es werden strenge Regeln aufgestellt, und diese Regeln gelten oft nicht aus sachlichen Gründen, sondern um ihrer selbst willen. Die Strafen sind oft willkürlich, sie hängen von der Laune des Elters ab. Die Strafen müssen nicht körperlich sein, oft werden die Kinder entwertet, kleine, subtile „Scherze“ stellen das Kind bloß. Wehrt sich das Kind, wird ihm gesagt: „Das war ja nur Spaß, Du hast keinen Humor, sei nicht so empfindlich!“ Es wird also wieder die Schuld auf das Kind geschoben.
Da sich das Kind nicht auf die Regeln des Elters verlassen kann, wird es ständig seine Antennen in alle Richtungen ausfahren. Es hat kein Selbstwertgefühl, weil es permanent entwertet wird, durch ständige, auch öffentlich geäußerte Kritik oder durch Ignorieren. Dieses Elter schafft es, tagelang nicht mit dem Kind zu reden, was einer weißen Folter (=Folter, deren Spuren man nicht sieht) gleichkommt. Ihm werden Schuldgefühle eingepflanzt („Was Du mir immer antust!“). Das Verhalten eines narzisstischen Elters grenzt oft an Borderline-Verhalten mit ständigem Wechsel von Lob und Tadel, deren Gründe für das Kind nicht einsichtig sein können, da sie objektiv nicht existieren.
Gaslighting
Als Gaslighting wird in der Psychologie eine Form von psychischer Manipulation bezeichnet, mit der das Opfer gezielt desorientiert, verunsichert und in seinem Realitäts- und Selbstbewusstsein allmählich beeinträchtigt wird.(Wikipedia) Gaslighting ist eine beliebte Taktik von Narzissten und Soziopathen. Durch sie wird das Opfer zum Täter gemacht.
Dem Opfer wird die Berechtigung für eigene Gefühle abgesprochen oder diese werden uminterpretiert. Es wird immer wieder fälschlich behauptet, das Opfer habe etwas getan oder gesagt, was nicht der Realität entspricht. Es wird verunsichert durch das Absprechen oder Umdeuten seiner Gefühle: „Du bist hysterisch/überempfindlich. Du verstehst das ganz falsch.“ – „Deine Phantasie muss man wirklich bewundern! Was Du Dir immer einbildest!“
Kinder und Bindungsverlust
Gesunde Eltern bauen zu ihren Kindern eine gesunde Bindung auf. Sie geben den Kindern, was ein narzisstisches Elter nicht geben kann, weil sich bei diesem immer alles um es selbst dreht. Aber Kinder sind auf eine Bindung angewiesen, sie ziehen sogar eine kranke Bindung einer nicht vorhandenen vor. Sie bemühen sich also, auch mit dem narzisstischen Elter eine Bindung aufrecht zu erhalten, manchmal sogar bis ins Erwachsenenalter. Damit eine solche Bindung zum narzisstischen Elter aufrechterhalten werden kann, muss das Kind ganz nahe auf dieses Elter zugehen. Dazu muss es seine eigene Persönlichkeit hinter sich lassen und sich ganz auf dieses Elter einstellen. Kinder versuchen also zu dem narzisstischen Elter eine gesunde Bindung aufzubauen, weil sie Angst vor dem Bindungsverlust haben, der sie in ihrer Vorstellung existenziell vernichten würde.
Folgen für das Kind
Als Kind eines narzisstischen Elters wird man die Folgen der Übergriffigkeit, der übermäßigen Kontrolle und der emotionalen Vernachlässigung durch das Elter auch ins Erwachsenenalter mit sich herumtragen. Diese Belastungen machen sich oft durch bestimmte Verhalten bemerkbar, die durch die komplexen Traumata in der Kindheit begründbar sind. Einige der Verhalten sind:
- Ständige Anspannung, um zu prüfen, wie die Umgebung reagiert. Dadurch ist der Sympathikus ständig übererregt, das (erwachsene) Kind ist angespannt und reizempfindlich, was zu chronischer Erschöpfung führt.
- Übertriebene Fehlervermeidung
- Der eigenen Wahrnehmung wird misstraut, das (erwachsene) Kind versucht sich rückzuversichern und hat ständig das Gefühl, etwas falsch zu machen.
- Chronische Angst, chronische Schuldgefühle und der ständige Drang, sich entschuldigen zu müssen
- Bindungsschwäche bei gleichzeitiger Angst, verlassen zu werden
- Die Beziehungsfähigkeit ist gestört, das Kind zieht sich auch als Erwachsener zurück
- Bei Stress verschwindet das (erwachsene) Kind nach innen
- Chronische Scham
- Unfähigkeit, anderen Menschen, aber auch dem eigenen Perfektionismus Grenzen zu setzen
- Überangepasstheit als Kind, manchmal werden die Probleme in der Pubertät virulent
- Jeder Schmerz wird selbst verarbeitet, auf Hilfe wird nicht vertraut
- Als Erwachsene können sich die Kinder kaum an ihre Kindheit erinnern, weil sie so viel abspalten mussten
Was kann dagegen getan werden
Das Wichtigste ist, dass das Kind eines narzisstischen Elters diesen auch als narzisstisch erkennt. Es muss erkennen, was Narzissmus ist, welche Bedürfnisse ein narzisstisches Elter hat und wie stark die Bedürfnisse eines Kindes nach Bindung an eine Bezugsperson sind. Sie sind so stark, dass ein Kind fast alles erträgt, um die lebensnotwendige Bindung aufrecht zu erhalten. Es muss ihm klar werden, dass es nicht die Ursache für die misslungene Eltern-Kind-Beziehung ist.
Da das Elter das Kind oft durch Gaslighting verunsichert, ja sogar seine Erinnerung manipuliert hat, ist es wichtig, einen wohlmeinenden Zeugen zu finden, der bestätigen kann, dass er die Ereignisse anders erlebt hat, als es das Elter behauptet. Existiert ein solcher Zeuge nicht – das Elter wird in der Regel dafür sorgen, dass die Erlebnisse nur von ihm und dem Kind geteilt werden – sollte das Kind sich überlegen, ob der vom Elter geschilderte Tathergang wirklich wahrscheinlich ist. Je öfter man die logischen Fehler erkennt, umso leichter fällt es, die Erinnerungen zurechtzurücken. Dabei darf man sich nicht durch Aussagen wie: „Das war doch Dein Vater / Deine Mutter! Der / die wird doch so etwas seinem Kind nicht angetan haben!“ Doch, das wird er / sie! Denn ein Narzisst / eine Narzisstin kann nur an sich denken. Andere, auch Familienmitglieder, spielen für ihn / sie keine Rolle und werden nur für eigene Zwecke benutzt.
Der wichtigste Schritt: Kontaktreduzierung
Solange man unter dem Einfluss des narzisstischen Elters ist, ist es weder möglich klar zu erkennen, was einem angetan wurde, noch, wie Heilung geschehen kann. Die Lösung von der symbiotischen Beziehung, die das Elter geknüpft hat, ist notwendig. Denn auch das erwachsene Kind wird immer wieder in kindliches Verhalten zurückfallen, das Elter wird seine Bemühung um die Wahrheit und Lösung erkennen und genau wissen, welche Knöpfe es zu drücken hat: Mitleid heischen („Das wird Dir noch mal leidtun, wenn ich tot bin!“) oder Angriff („Du spinnst ja, Du gehörst in die Klapse!“) oder auch weiteres Gaslighting („Ich habe von einem Psychologen gehört, der Deine Probleme heilen könnte.“) und subtile Erpressung („Denk an mein schwaches Herz!“).
Das Elter wird sich nicht ändern, jeder Umerziehungsversuch wird kläglich scheitern. Um also eigene Gedanken fassen und reifen zu lassen, hat das erwachsene Kind nur die Chance sich dem Einfluss des Elters entziehen, indem es Besuche reduziert oder ganz einstellt. Es muss sogar das eigene Telefon und die eigenen sozialen Medien für das Elter sperren. Auch ein schlechtes Gewissen darf das Kind nicht davon abhalten, denn dies ist der Hebel, mit dem das Elter den Widerstand des Kindes immer wieder geknackt hat. Es sollte sich deutlich machen, was das Elter ihm angetan hat, ohne selbst ein schlechtes Gewissen zu entwickeln. Es darf erkennen, dass sein kindliches Verhalten ein intelligenter und notwendiger Überlebensmechanismus war, der heute allerdings wenig hilfreich ist und nicht mehr angewendet werden darf.
Partnerbindung im Erwachsenenalter
Kinder eines narzisstischen Elters können trotzdem zu ihrem späteren Partner eine gesunde Bindung entwickeln, wenn die oben genannten Heilungsschritte unternommen wurden. Dabei hilft es, über das Verhalten des Elters mit jemandem zu sprechen, der dessen Verhalten bezeugen kann, denn der Täter wird sein Fehlverhalten nie zugeben. Das erwachsene Kind muss sich darüber klar werden, dass es an einem Trauma trägt, das geheilt werden muss.