„Wo is’n meine Brille?“
Sie kennen das bestimmt: Sie suchen etwas und können es nicht mehr finden, obwohl Sie wissen: gestern lag es noch da. Sie fragen jemand anderes: „Hast Du … gesehen?“ Und der antwortet: „Da liegt es doch, vor Deiner Nase!“ Und plötzlich sehen Sie es auch, Sie können es gar nicht mehr übersehen, obwohl Sie schwören würden, dass es vorher nicht da war. Was ist da passiert?
Schauen wir uns also unsere optische Wahrnehmung etwas genauer an, denn in unserem Beispiel ging es ja um das Sehen bzw. das Nicht-Sehen. Bei den anderen Sinnen ist das durchaus ähnlich.
Das Sehen
Das Sehen ist ein physikalischer Vorgang. Elektromagnetische Wellen treffen auf unsere Retina und deren Rezeptoren lösen Nervenimpulse aus. Schon in dieser Stufe wird vieles aussortiert: Elektromagnetische Wellen gibt es von Radiowellen bis zur Gamma-Strahlung. Unser Auge reagiert aber nur auf einen ganz kleinen Bereich, von Violett bis Dunkelrot. Das, was wir von der Wirklichkeit sehen, ist also stark eingeschränkt, man spricht vom Tunnel der Wahrnehmung.
Auf der anderen Seite sehen wir mehr, als da ist. Braun gibt es z. B. nicht als primäre Farbe, keine Wellenlänge des Regenbogens ist mit dieser Farbe korreliert. Eine Mischung als Grün und Rot nehmen wir als Braun, als eine völlig andere Farbe wahr. Wir sehen aber noch mehr, was es „in Wirklichkeit“ gar nicht gibt: In unserer dreidimensionalen Welt kann es keine ein- oder zweidimensionalen Gegenstände geben. Trotzdem sehen wir die Kanten eines Gegenstands. Eine Kante ist aber eindimensional, sie existiert also nur in unserer Vorstellung.
Nur diese Stufe des Sehens ist nicht wahrscheinlich individuell, also nicht von persönlichen oder kulturellen Einflüssen geprägt. Obwohl, so ganz sicher kann man auch da nicht sein. Wenn zwei Menschen die gleiche Farbe als „grün“ benennen, haben sie dann den gleichen Sinneseindruck, oder haben sie nur gelernt, einen individuell verschiedenen Eindruck als „Grün“ zu bezeichnen?
Die Wahrnehmung
Obwohl unser Auge an unser Gehirn nur farbige Flecken weiterleitet, vielleicht noch mit Informationen über deren Kanten, nehmen wir die Welt dreidimensional wahr. Das ist eine gigantische Leistung, die wir mühsam lernen müssen: Ein Neugeborenes sieht nur Flecken.
Darüber hinaus erkennt der Wahrnehmungsprozess Gegenstände als solche, er unterscheidet zwischen einem Gegenstand und seiner Umgebung. Auch das ist wesentlich, wollen wir eine innere Repräsentation des Gesehenen erreichen. Und sie trennt den Gegenstand von seiner Beleuchtung. In weiten Bereichen schreiben wir nämlich einem Gegenstand die gleiche Farbe zu, egal, ob er von weißem oder farblich leicht getöntem Licht beleuchtet wird. Für unsere Vorfahren war das überlebenswichtig: sie hätten eine unreife Frucht in der roten Abendsonne nicht als unreif erkannt.
Wahrnehmung ist also eine höhere Gehirnleistung als der rein physiologische Sehvorgang. Wahrnehmen hat auch etwas mit dem Wiedererkennen zu tun. Dazu muss sich unser Gehirn dreidimensionale Modelle von uns schon bekannten Gegenständen gemerkt haben, um sie mit dem wahrgenommenen Gegenstand vergleichen zu können. Für diesen Vergleich müssen die schon bekannten Gegenstände in unserer Vorstellung im Raum gedreht und in der Größe angepasst werden, bis eines davon dem wahrgenommenen Gegenstand weitgehend gleicht. Wir erkennen also nur Dinge, die wir schon kennen oder die uns bekannten Dingen ähneln. Völlig fremde Gegenstände können wir nicht einordnen, zum Teil noch nicht einmal richtig sehen. Deshalb muss ein Kind einen ihm fremden Gegenstand im wahrsten Sinne des Wortes „begreifen“, um ihn kennenzulernen.
Ein Beispiel dafür, dass wir nur richtig sehen, was wir kennen, finden wir bei Albrecht Dürer. Der war sicher ein ausgezeichneter Maler und Zeichner, seine berühmte Zeichnung eines Hasen ist sehr lebensecht. Man sieht sofort, dass er Hasen genau kannte. Seine Zeichnung eines Panzernashorns dagegen wirkt wenig lebensecht, ja sogar falsch. Man merkt, dieses Tier war Dürer nicht vertraut.
Die Wahrnehmung erreicht noch eine weitere Abstraktionsebene, die uns einen Gegenstand als zu einer Gattung gehörend erkennen lässt. So erkennen wir einen Tisch als einen Tisch, egal ob er rund, oval oder viereckig ist, egal ob er drei, vier, oder sechs Beine hat.
Das Erleben
Gegenstände, Farben oder sonstige wahrgenommene Eindrücke induzieren bei uns bestimmte Erinnerungen und lassen uns bestimmte Gefühle erleben. Das Erleben ist hochgradig individuell, obwohl bestimmte Düfte, Farben und Bilder bei allen Menschen eines Kulturkreises ähnliche Gemütsregungen auslösen. Auch ist das Erleben nicht konstant. Je nach Stimmung kann die gleiche Szene andere Gefühle auslösen.
Das Erleben geht weit über die Sinneseindrücke hinaus: Wir können auch Dinge nur in unserer Vorstellung, ohne Mitwirkung unserer Sinne erleben. Ein Buch, ein Traum oder eine Fantasie kann das Erleben von Sinneseindrücken induzieren, obwohl wir die an der Szene beteiligten Gegenstände nur vor unserem „inneren Auge“, also in unserer Vorstellung, sehen.
Bewusstsein
Eigentlich hat unser Bewusstsein wenig mit unseren direkten Sinneseindrücken zu tun. Nur unser Gehirn schafft unser Bewusstsein, indem es das Erleben und seine Wirkung auf uns reflektiert. Ich möchte hier aber nicht weiter auf das seinem Wesen nach selbstreflektive Bewusstsein eingehen, denn das ist ein Thema, das an anderer Stelle behandelt werden sollte.
Fazit
Unser Sehen, Riechen, Schmecken, Hören und Fühlen findet nur zu einem kleinen Teil im eigentlichen Sinnesorgan statt, die wesentliche Erkenntnisarbeit wird im Gehirn geleistet. So ist es kein Wunder, dass unsere Augen und Ohren, unsere Nase und unsere Zunge am Kopf sitzen und so einen „direkten Draht“ zum Gehirn haben, wo die von ihnen gelieferten Sinneswahrnehmungen verdichtet und bewertet werden.
Wir sollten allerdings nicht vergessen, dass das, was wir durch unsere Sinnesorgane erleben, nicht die ganze Wirklichkeit ist. Die Wirklichkeit können nur physikalische Geräte erfassen, aber auch die sind auf einen eindimensionalen Output beschränkt. Sie erleben die Welt nicht, genau so wenig wie eine Brille, auch wenn die uns vielleicht das Sehen erst ermöglicht. So sehen wir auf der einen Seite nur einen kleinen Ausschnitt aus der Welt, auf der anderen Seite können wir sie viel tiefere und umfangreicher wahrnehmen. Genießen wir also unser Erleben!