Laute und leise Menschen
Vor kurzem habe ich das 9-stufige Modell der Ich-Entwicklung kennengelernt, das die Psychologin Jane Loevinger entwickelt hat, nachdem sie sich fragte, wie es bei manchen Menschen zu einem aufgeblähten Ego kommen kann, obwohl der Mensch an sich ein soziales Wesen ist. Ich möchte hier ihre Grundgedanken schildern.
Wir alle werden laut geboren. Wenn wir auf die Welt kommen, erkennen wir zwar die eigenen Bedürfnisse, sind aber nicht in der Lage, die unserer Umwelt wahrzunehmen. Wir melden völlig egozentrisch unsere Bedürfnisse lautstark an. Das ist auch gut so. Ein Baby, das das nicht tun würde, könnte verhungern.
Später werden wir impulsiv und aggressiv, um unsere Bedürfnisse anzumelden. Jede Mutter und jeder Vater kennt die Wutanfälle der Trotzphase. Das Kleinkind erkennt sich jetzt als eigene Person und will alles – und das sofort. Es erlebt sich nur im Hier und Jetzt. Da die Umwelt ihm Grenzen setzt – ihm Grenzen setzen muss – wird diese als „böse“ erlebt.
Schließlich, als Schulkind, lernen wir, unsere Bedürfnisse zu kontrollieren und nicht mehr auf ihrer sofortigen Befriedigung zu bestehen. Das tun wir aber nicht aus höherer Einsicht, sondern weil wir gelernt haben, dass wir belohnt werden, wenn wir brav sind. Abwarten und weniger laut sein führt also oft zu besseren Ergebnissen.
In der nächsten Stufe – etwa bei der Einschulung – kommen noch konformistische Überlegungen hinzu. Man will dazugehören, Teil einer Gemeinschaft sein, und verhält sich deshalb regelkonform.
Viele Menschen kommen über diese Stufe nicht hinaus. Ihr ganzes Streben ist, laut ihre Bedürfnisse anzumelden. Wenn sie leise sind, ist das rein opportunistisch. Zurückhaltung ist für sie nur eine Frage der Taktik zur Erreichung ihrer egoistischen Ziele.
Manche Menschen erreichen (aber kaum vor dem 25. Lebensjahr) die rationalistische Stufe mit einem echten Interesse an tiefen Beziehungen zum Anderen. Sie möchten sich immer noch konformistisch anpassen, werden sich aber immer mehr ihrer selbst bewusst.
Bis zu dieser Stufe haben wir es nur mit lauten Menschen zu tun, mit Menschen, die ihre eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund stellen und auf Andere keine echte Rücksicht nehmen können. Wenn Sie es scheinbar doch tun, sind sie nur an der Außenwirkung ihres Tuns interessiert, sie spielen Theater, um ein Ziel zu erreichen.
Die weiteren Entwicklungsstufen beschreiben ein Stillwerden des Menschen als eine bewusste Rücknahme des (vor)lauten Egos. Erst in den höchsten Stufen ist es möglich, Erfüllung durch Gelassenheit zu erreichen uns schließlich zu dem zu finden, was gemeinhin als Weisheit bezeichnet wird.
Wir Menschen werden also laut geboren und erreichen erst durch stetige Weiterentwicklung die Gelassenheit, die uns leise werden lässt. Leider erreichen wir längst nicht alle die dazu notwendigen Stufen. Und selbst die, die sie erreichen, erleben Momente, in denen sie wieder wie weniger Entwickelte reagieren lässt. Meist ist Stress oder Angst der Grund für einen solchen Rückschritt. Sind wir uns dessen bewusst, bleibt der Rückschritt temporär.
Schlimm dagegen ist ein dauerhaftes Beharren auf einer niedrigen Stufe. Solche Menschen können nicht auf die impulsive Befriedigung ihrer Wünsche verzichten und nicht die heitere und weise Gelassenheit erreichen, die zur Zufriedenheit führt. Zu dieser Gelassenheit gehört auch, eigene Fehler und Grenzen zu erkennen und zu akzeptieren, ohne jedoch aufzuhören, zu versuchen, sie mehr und mehr zu eliminieren. Denn wenn wir das tun, brauchen wir nicht ständig der Welt verkünden, wie toll und wie weit wir allen anderen überlegen sind. Wir können unsere Mitmenschen anerkennen und einfach mal die Klappe halten und hinhören, was die Anderen uns zu sagen haben.
Möchten Sie Angst und Stress überwinden, um für eine Weiterentwicklung bereit zu sein? Kontaktieren Sie mich, vielleicht kann ich Sie auf diesem Weg begleiten.
Hallo Annett,
klar gibt es ein „zu weich“, „zu leise“ und „zu nachgiebig“. Auch das ist nicht gut, da man sich damit selbst kleiner macht und verletzt. Einem anderen Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, ihn nicht niederzuschreien, aber seine eigenen Bedürfnisse durchaus klar und fest zu äußern, das ist das Ziel.
Gruß Roland
Das kann ich nur bestätigen. Ich denke das Einsicht und Weisheit nicht im dem Gebrüll der Straßen und Städte zu finden ist, sondern nur in der Stille und in uns selbst. Oft wird mir gesagt ich bin zu leise. Als Marktschreier jedoch hab ich mich nicht wohlgefühlt. Jetzt werde ich das,,ich bin zu leise,, annehmen, lächeln und mich bedanken.
Annett Kranz