Werte sind (nicht) verhandelbar
Wir denken alle, dass wir liberal sind, dass wir andere Meinungen gelten lassen und nicht auf unseren eigenen Werte bestehen. Stimmt das wirklich? Akzeptieren wir beliebige Meinungen, oder gibt es für jeden von uns Werte, die nicht verhandelbar sind?
Ich gebe zu, ich habe solche Werte. Wenn jemand meiner Meinung nach andere Menschen in ihrer Freiheit unzulässig einschränkt, kann ich das nicht akzeptieren. Und unzulässig fängt bei mir schon recht früh an. Ich denke allerdings, dass man die Freiheit eines Menschen einschränken darf, der versucht, anderen Menschen ihre Rechte zu nehmen, also z. B. Flüchtlingsheime mit oder ohne Bewohner in Brand steckt, der plant, Menschen in die Luft zu sprengen oder im Internet bzw. persönlich wilde Drohungen und Beschimpfungen gegen Andersdenkende ausstößt.
Ich weiß allerdings, dass jeder andere Werte hat. Es gibt schließlich auch Leute, die überzeugt sind, eine Frau umbringen zu müssen, weil sie einen Fötus abgetrieben hat, weil „Das Leben muss geschützt werden!“ oder die „Ehre der Familie“ einen Mord rechtfertigt.
Warum sind Werte so wichtig, dass ihnen Menschen geopfert werden?
- Werte spenden Identität
Ich werde dadurch, dass ich diese Werte vertrete, in meiner Vorstellung zu einer besonderen und unverwechselbaren Person. - Werte verbinden
Leute mit den gleichen Werten gehören zu „uns“, auf die können wir zählen. Wir glauben, dass sie uns ähnlich sind, ohne dass wir das in jedem Fall überprüfen müssen. - Werte trennen
Leute mit anderen Werten sind „die Anderen“, denen nicht zu trauen ist und die man im Zweifelsfall verachten darf. Sie sind eigentlich gar keine richtigen Menschen („Ungläubige“, „Kanaken“, „Froschfresser“, „Teufelsanbeter“, …) und man darf sie unbestraft bekämpfen. - Werte machen das Leben einfach
Durch die Werte, die eine Person vertritt, kann ich ihn mit einem Etikett versehen („Konservativer“, „Anarchist“, „Islamist“, „Rechter“, …) und brauche mich nicht mehr detailliert mit ihm zu beschäftigen. Damit machen Werte die komplizierte Welt scheinbar übersichtlich.
Egoistische Gründe, an Werten unbeirrbar festzuhalten
Wir sehen also, dass es viele ziemlich egoistische Gründe gibt, an Werten unbeirrbar festzuhalten. Das gilt auch, wenn sie nur Glaubenssätze sind, die uns von früheren Generationen eingeimpft wurden. Ich erinnere mich, wie in den 60’ern ein Mann auszusehen hatte: glattrasiert, kurze Haare, Anzug, Krawatte. Jeder, der anders aussah, wurde als „Gammler“, „Kommunist“ oder „Arbeitsscheuer“ diffamiert und wenn möglich mit Gewalt bekämpft. Man hat also aus dem äußeren Erscheinungsbild, das nicht den eigenen Werten entsprach, ohne Prüfung darauf geschlossen, dass er auch die anderen eigenen Werte nicht vertrat: Sauberkeit, Fleiß und Ordnung.
Ganz besonders ernst wird es, wenn Werte durch eine Religion oder eine pseudoreligiöse Überzeugung geheiligt werden. Heilige Werte sind unverletzbar, und wenn sie nicht vom Gesetz geschützt sind, muss man sie mit Fäusten und Waffen durchsetzen. Sei es der rechte Glaube, die germanische Volksgemeinschaft, die Ehre des Staates oder ein wie auch immer gearteter religiöser Brauch, es gibt keine noch so absurde Überzeugung, um die nicht schon heilige Kriege geführt wurden. Bei heiligen Werten gibt es keine Kompromisse, sie sind Tausende von Toten wert. Jonathan Swift beschreibt das in seinem satirischen Roman „Gullivers Reisen“, er schildert den Bürgerkrieg, der um die Frage ausbrach, ob man ein Ei an der stumpfen oder an der spitzen Seite aufschlagen solle. Auch diese Frage war eine heilige, denn der großen Propheten Lustrog hatte geschrieben: „Alle wahren Gläubigen schlagen ihr Ei am bequemen Ende auf.“ Und darüber konnte man trefflich streiten.
Überlegen, ob wirklich diese Opfer wert sind
Wir sollten alle einmal innehalten und uns überlegen, ob die Werte, die wir mit Vehemenz verteidigen und zu verbreiten versuchen, wirklich diese Opfer wert sind. Müssen die religiösen Werte, die für mich gelten, wirklich auch für andere gelten? Sind die Werte, auf denen ich so unverrückbar bestehe, nicht nur überlieferte Glaubenssätze, die sich eigentlich längst überlebt haben? Und sind die Werte wirklich die Kämpfe wert, die wegen ihnen ausgefochten werden? Ist die Freiheit eines Menschen oder gar ein Menschenleben nicht kostbarer als jeder noch so heilige Wert?
Man erinnere sich: Die Freiheit beginnt bei der Freiheit des Andersdenkenden! In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein friedvolles Weihnachtsfest.