Wie werde ich erwachsen?
Es gibt viele äußerlich Erwachsene, die nie aus ihrer Kindheit herausgekommen sind. Wirklich erwachsen werden scheint ja auch keine lohnende Sache zu sein, denn man muss Verantwortung übernehmen und angeblich immer ernst sein. Aber ist die Kindheit wirklich ein nicht enden wollender Spaß, geprägt von Spontaneität, Kreativität und Stressfreiheit? Oder bringt sie ein enges Korsett an Vorschriften, Einschränkungen und Nichtkönnen mit sich, und es macht mehr Spaß, erwachsen zu werden, um zu können, zu dürfen und zu verantworten? Wie werde ich erwachsen?
Der Ernst des Lebens
Ich erinnere mich, mir wurde mindestens vier Mal prophezeit, dass jetzt der „Ernst des Lebens“ beginne: beim Schuleintritt, beim Wechsel ins Gymnasium, beim Studienbeginn und zu Beginn meines Berufslebens. Allerdings habe ich das mit dem „Ernst“ nie so richtig ernst genommen. Das hatten schon viele vor mir geschafft, warum sollte mir es nicht auch gelingen? Außerdem fand ich den Neuanfang jedes Mal spannend. Und wirklich, jeder brachte neue Aufgaben, aber auch neue Freiheiten mit sich. Ich gebe zu, das ständige Gerede und die ständigen Warnungen haben mir ab und zu auch Angst gemacht, und ich habe auf die prophezeite Katastrophe gewartet. Sie kam, hatte zwar nichts mit dem Ernst des Lebens zu tun, aber plötzlich war sie da. Und ich habe sie gemeistert.
Warum bin ich mit ihr fertig geworden? Ich hatte rechtzeitig die kindlichen Illusionen – jedenfalls die meisten – aufgeben müssen. Mir wurde früh klar gemacht, dass ich selbst, und niemand sonst, für mein Leben, mein Versagen und für meine Erfolge verantwortlich bin. Ich hatte schon früh dafür gekämpft, meine eigene Persönlichkeit zu finden und trotz eines negativen Selbstbildes, das mir schon in frühen Jahren mitgegeben wurde, nicht aufzugeben.
Wie werde ich erwachsen
Erwachsen zu werden heißt eben nicht nur, älter zu werden und den Ernst des Lebens zu tragen, sondern auch, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und anderen nicht die Schuld für nicht so gelungene Zeiten zuzuweisen. Das heißt auch, Sicherheit aufzugeben, um Freiheit zu gewinnen – und dazu gehört die Freiheit zu scheitern. Kämpft wir uns aber aus eigener Kraft wieder aus dem Schlamassel heraus, wachsen wir und dürfen zu Recht stolz auf uns sein.
Löst Du Dich von kindlichem Denken, übernimmst Verantwortung und gibst sie weder den Eltern noch der Gesellschaft, genießt Du eine bisher ungeahnte Freiheit. „Was werden die Nachbarn sagen?“ ist dann keine wesentliche Frage mehr. Du kannst eigene Entschlüsse fassen ohne Dich um die Meinung anderer zu sorgen, denn die kannst Du sowieso nicht beeinflussen. Die Anderen sagen, was sie wollen, und was auch immer Du tust, es wird immer Leute geben, die Dich kritisieren. Du lebt selbst und wirst nicht mehr gelebt.
Niemand behauptet, das sei einfach. Die alten Kinderängste werden immer wieder auftauchen, das Eltern-Ich mit seinen Strafen und Einschränkungen wird sich immer wieder drohend aufbauen. Aber Du kannst ihm dann mit Deinem eigenen Erwachsenen-Ich entgegentreten und so Deine Freiheit einfordern.
Eltern sein
Nur aus einer erwachsenen Haltung heraus wirst Du auch Deine Eltern verstehen können, ihre Geschichte, ihre Ängste, ihre Traumata und die Einschränkungen, unter denen Du vielleicht gelitten hast. Und erst wenn Du sie verstanden hast, kannst Du Deine Traumata verarbeiten. Dann kannst Du Deinen Eltern auf Augenhöhe entgegentreten, sie als Deine Eltern ehren, ihnen ihre Fehler verzeihen und ihnen für das Gute danken. Dann kannst Du den Dank, den Du Deinen Eltern schuldest, einlösen, indem Du Deinen Kindern Gutes mit auf den Weg gibst.
Bleiben wir dagegen in einer kindlichen Haltung, können wir selbst nie die Eltern sein, die ihren Kindern den Weg zum Erwachsenwerden zeigen. Wir vererben ihnen quasi unsere eigene Kindlichkeit und hindern sie daran, sich von uns zu lösen und selbst erwachsen zu werden. Denn sie haben dann kein Vorbild, dem sie folgen können. Sie werden, so wie ihre kindlichen Eltern, Kinder bleiben und sich ein Leben lang entweder ihrer Umgebung anpassen oder sich in sinnloser, pubertärer Opposition aufreiben. Beides ist – jedes zu seiner Zeit – richtig und wichtig. Erwachsen sein heißt aber, beide Verhalten zur Verfügungen zu haben und sie im richtigen Kontext einsetzen zu können. Unser eigenes Handeln bleibt unfrei, wenn wir uns unserer Verhalten nicht bewusst sind und uns in allem nach Anderen richten. Situatives eigenes Reagieren ist angesagt, auch auf die Gefahr hin, dass wir die Situation falsch einschätzen. Denn wenn wir erwachsen sind, überstehen wir solche Fehler und wachsen an ihnen weiter.