Seelenbegleitung / Psychopomp
Ein Mensch stirbt, und die Hinterbliebenen trauern.
Die Trauer ist aber ein Gefühl, das sich auf die Hinterbliebenen bezieht, nicht auf den Toten. Denn denen tut es weh, allein zurückgelassen worden zu sein, ja manchmal sind sie deshalb sogar insgeheim auf den Toten ärgerlich. Das würde zwar niemand zugeben, aber das Gefühl ist genau so wenig logisch – und genauso real – wie das eines Kindes, das von der Mutter zum ersten Mal allein im Kindergarten zurückgelassen wird, und das zuerst weint, und dann wütend wird. Wir sollten uns ehrlich diesen Gefühlen stellen.
Wenn die Trauer dann nach einigen Monaten oder einem Jahr nachgelassen hat, ist es uns möglich, auch etwas für die Seele des Toten zu tun und sie bis zum Tor der Totenwelt zu begleiten. Dies ist die Seelenbegleitung oder, wie es auch genannt wird, der Psychopomp. Das Ritual wird auf unterschiedliche Art und Weise gefeiert, abhängig von der Tradition und der örtlichen Kultur.
Das Ritual ist nichts anderes als die Begleitung eines Freundes zum Bahnhof. Je nachdem, wie viel Kraft der Begleiter hat, kann er den Abreisenden nur bis vor das Haus begleiten, oder bis zum Bahnhof, oder bis aufs Gleis, und vielleicht sogar bis ins Zug-Abteil. Da hilft er dem Reisernden mit seinem Gepäck und verabschiedet sich. Er achtet aber darauf, auszusteigen, bevor der Zug abfährt – obwohl, aufpassen muss er da nicht sonderlich, der Zug würde mit einem Lebenden an Bord gar nicht abfahren.
Und wenn der Zug dann abfährt und wir ihm hinterherwinken, dann kommt vielleicht nochmal die Trauer zurück, und vielleicht auch der Ärger, weil der Tote sich so leicht von uns gelöst hat und sich sogar auf die Reise freut. Vielleicht können wir uns aber auch mit ihm freuen. Da hilft der Satz: „Du bist gegangen, hast mich zurückgelassen. Ich bleibe noch eine Weile, so lange, wie mir gegeben ist, und dann folge ich Dir nach!“
Das Bild mit dem Zug ist wirklich nur ein Bild, andere Leute hatten zu anderen Zeiten andere Bilder. So war früher das Bild von dem Fährmann weit verbreitet, der den Toten über den Totenfluss bringt, und dessen Barke man als Lebender nicht betreten darf. Welches Bild wir uns schaffen, ist egal. Denn was tatsächlich passiert, wissen wir nicht. Und selbst wenn wir es wüssten, wir würden es nicht verstehen.
Es ist wichtig, dem Toten sein Gepäck mitzugeben, seine Glaubenssätze, sein Schicksal und seine Überzeugungen, mit denen er sein Leben verbracht hat. Es mag sein, dass wir nach einiger Zeit merken, dass er nicht alles mitgenommen hat, seinen Lieblingssatz hat er uns vielleicht aufgedrängt, so wie wir seinen Lieblingspullover geerbt haben. Ganz selbstverständlich haben wir diese „Altlast“ übernommen und tragen sie, sie passt uns ja scheinbar. Aber sie tut uns nicht gut! Wir sollten ihm die vergessenen Dinge hinterherschicken, wenn wir selber so einen „Pullover“ wollen, dürfen wir nicht seinen nehmen, wir müssen uns selbst einen besorgen.
Das Hinterherschicken gelingt meist mit dem Satz: „Dies habe ich einige Zeit für Dich getragen, es gehört aber nicht zu mir. Ich übergebe es Dir, damit Du dafür einen guten Platz findest.“
Die Anderswelt ist nicht logisch, Ereignisse, die „eigentlich“ aufeinander folgen müssten, können sich gleichzeitig, in „verkehrter“ Reihenfolge, gar nicht oder mehrfach hintereinander stattfinden. Deshalb spielt es keine Rolle, wann wir die Seelenbegleitung machen, und es spielt auch keine Rolle, wenn sie verschiedene Leute zu unterschiedlichen Zeiten machen. Die Energie, die dieses Ritual spendet, steht dem Toten und uns zur rechten Zeit zur Verfügung.