Schuld und Schuldigkeit
Nehmen wir an, Sie schlagen einen Nagel in die Wand. Ihr Kind steht interessiert daneben und schaut zu. Auf einmal fällt Ihnen der Hammer aus der Hand, und wie es das Unglück so will, Ihrem Kind auf den Fuß. Der Fuß wird dick, das Kind brüllt.
Tut Ihnen das leid? – Na klar! Fühlen Sie sich schuldig? Bestimmt! – Sind Sie schuld? Nicht wirklich!
Sicher kann man auch in einer solchen Situation von Schuld reden („Hättest Du den Hammer besser festgehalten!“), aber nicht umsonst spricht der Gesetzgeber hier vom „Verursacher“ und nicht vom „Schuldigen“. Es war eine Verkettung unglücklicher Zufälle – da könnte man dem Kind auch Schuld geben. Warum stand es ausgerechnet da, wo der Hammer hingefallen ist? Manche machen dem Kind ja auch aus lauter Hilflosigkeit Vorwürfe, obwohl das natürlich völlig daneben ist.
In dem Fall zwischen schuld sein und sich schuldig fühlen zu unterscheiden, ist einfach. Schwieriger wird das in einem anderen Fall, von dem ich letzthin erfahren habe.
Der Vater-Sohn-Konflikt
Die Eltern hatten einen kleinen, aber erfolgreichen Betrieb aufgebaut, sagen wir ein Malergeschäft, das der Sohn einmal übernehmen sollte. Nun interessierte der sich aber weder für Farben noch für Betriebswirtschaft, er wollte unbedingt etwas anderes werden – sagen wir einmal Lehrer. Er setzte sich zuhause durch und fing an, an der pädagogischen Hochschule zu studieren.
Nun war der Sohn nicht dumm, er schrieb zu Beginn des Studiums gute Klausuren. Dann aber fing er an zu trödeln und setzte den Erfolg seines Studiums dadurch aufs Spiel. Was war passiert?
Von Anfang an war sein Vater enttäuscht gewesen, weil sein Sohn sein Lebenswerk nicht fortsetzen wollte, hatte sich deshalb zurückgezogen und mit seinem Sohn nicht mehr geredet. Und seine Mutter machte ihm Vorwürfe: „Du bringst Deinen Vater noch ins Grab, so sehr grämt er sich!“ Der Sohn war in einem Dilemma: er wollte eigentlich ein dankbarer Sohn sein, der seinen Eltern gehorcht. Er hatte gesehen, dass sein Vater und auch seine Mutter sich für den Betrieb aufgerieben hatten. Er fühlte sich schuldig, wenn er den Wünschen seiner Eltern nicht folgte.
Auf der anderen Seite war er davon überzeugt, ein besserer Lehrer als Maler zu sein. Jemanden etwas nahe zu bringen war schon immer seine Leidenschaft gewesen, und das konnte er auch gut. Und er ging gerne mit Kindern um. Es wäre eine Schande, wenn er seine Begabung nicht nutzen würde. Auch dann würde er sich schuldig fühlen. Weil er dieses Dilemma nicht auflösen konnte, fing er unbewusst an, sein Studium zu torpedieren.
War er also schuldig, weil er sich dem Wunsch seines Vaters nicht beugen, sondern seinen eigenen Begabungen folgen wollte? Manche Menschen würden sagen, es sei seine „verdammte Pflicht und Schuldigkeit“ seinem Vater zu folgen, und den Malerbetrieb zu übernehmen. Ich glaube aber, dass er so, wie er heute sein Studium torpediert, später den Betrieb gegen die Wand fahren würde. Beides würde unbewusst passieren, aufgrund der ungelösten Widersprüche.
Wie hilft eine lösungsorientierte Einzelaufstellung?
Der Vater grämt sich, dass sein Lebenswerk möglicherweise nicht fortgeführt wird. Dieser Gram gehört aber ganz dem Vater, sein Sohn hat den Betrieb nicht gegründet, hatte dabei auch kein Mitspracherecht und ist deshalb für seine Fortführung nicht verantwortlich. Das sollte dem Sohn bewusst sein. Außerdem wäre es dem Vater bestimmt nicht recht, sein Lebenswerk in die Hände eines zweitklassigen Nachfolgers zu übergeben. Er möchte seinen Betrieb prosperieren sehen, wenn er sich aus dem aktiven Berufsleben zurückzieht. Sein Sohn wäre, aufgrund seiner differierenden Interessen, bestimmt nicht der beste Nachfolger.
So handelt der Sohn also im Sinne des Vaters, wenn er einen anderen Beruf ergreift. Das mit dem Verstand zu verstehen, wird für ihn noch recht einfach sein. Das aber wirklich zu begreifen und im Unterbewusstsein zu verankern, ist ganz und gar nicht leicht für einen Sohn. Hier kann eine Einzelaufstellung mit entsprechenden Lösungssätzen helfen, die auf die Personen und die Situation genau abgestimmt sind.
Was schulden wir den Eltern?
Das ist eine grundsätzliche Frage, die sich nicht nur in unserem Beispiel des Malerbetriebs stellt. Zu was sind die Kinder gegenüber den Eltern verpflichtet?
Die Eltern haben uns das Leben geschenkt. Dafür ehren wir sie. Die Eltern haben uns versorgt, bis wir auf eigenen Füßen stehen konnten. Aber diese Schuldigkeit tragen wir gegenüber unseren eigenen Kindern ab. Die Verpflichtung der Versorgung geht also immer in Richtung der nachfolgenden Generation. Dabei müssen das noch nicht einmal die eigenen Kinder sein. Wer als Mentor und Förderer der jüngeren Generation tätig ist, erfüllt die Verpflichtung auch.
Warum bezieht sich unsere Verpflichtung immer auf die nachfolgende Generation? Wir haben nichts dazu getan, um auf die Welt zu kommen. Unsere Eltern haben das getan und sind damit auch die entsprechenden Verpflichtungen eingegangen. Wir haben also keine weitere Verpflichtung gegenüber unseren Eltern als die, sie zu ehren, weil sie uns das Leben geschenkt haben. Wir sind hingegen weitreichende Verpflichtungen gegenüber unseren Kindern eingegangen, als wir sie gezeugt haben.
Wenn wir diese Verpflichtungen schuldhaft verletzen, indem wir die Kinder nicht so gut es uns möglich ist versorgen, ihnen unseren Willen aufzwingen oder sie zur Erfüllung eigener Wünsche missbrauchen, haben wir den Anspruch auf ihren Respekt verwirkt. Denn dann sind wir der Verpflichtung nicht nachgekommen, der wir mit ihrer Zeugung eingegangen sind. Wir haben als Eltern versagt. Wenn wir uns Mühe gegeben haben, den Kindern gerecht zu werden, dabei aber Fehler gemacht haben, erkennen die Kinder die Absicht und nehmen sie als die Tat. Denn Kinder können noch Fehler vergeben.